Als Abram, der wegen Homosexualität zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, in das kleine Dorf Reinöd kommt, ist sich das Dorf schnell einig: Er soll wieder weg. Sogar seine Mutter schließt sich dem Wunsch an – vielleicht hört dann das Gerede über sie endlich auf. Nur die lebenslustige Tonka will, dass er bleibt. Mit ihr will Abram versuchen, eine Partnerschaft einzugehen und sich den rigiden Gesetzen des Dorflebens zu fügen. Als dann die Metzgerin behauptet, Abram hätte den kriegstraumatisierten Jungen Rovo verführt, setzt sie eine Spirale der Gewalt in Gang, der die Schwächsten zuerst zum Opfer fallen.
Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern, so der ursprüngliche Titel, machten den Autor 1965 als Vertreter des neuen kritischen Volkstheaters bekannt. Das Stück hat Modellcharakter: Am Beispiel eines kleinen Dorfes wird das Verhalten einer Gemeinschaft vorgeführt, die mit dem Gefühl moralischer Überlegenheit zur Jagd auf alle bläst, die ihren Vorstellungen widersprechen. Sperr zeigt, dass der gesellschaftliche Boden, auf dem Nazideutschland gedeihen konnte, auch nach Kriegsende existent blieb und neue Katastrophen produzierte.
Julia Prechsl (*1992 in Landshut) war 2017 Teil des renommierten Directors Lab am Lincoln Center Theater in New York City. Die Nibelungen wurde 2022 in die Auswahl des digitalen Nachtkritik-Theatertreffens gewählt. Sie arbeitet u. a. an den Staatstheatern Saarbrücken, Stuttgart, Darmstadt und am Deutschen Theater Göttingen.