Verstrickt und zugenäht
Gespannt stehen sie da, in ihren zerrissenen Kleidern und mit ihren dreckig geschminkten Gesichtern und warten! Warten auf ihren Auftritt im ersten Akt des Musicals „Sweeney Todd“. Nur eine, die scheint das gar nicht zu stören. Nervös ist sie nicht mehr, obwohl sie einen Statisten überraschend ersetzen muss. Das Bühnenschauspiel verfolgt Maria Neumann nur am Rande, denn interessanter ist in diesem Moment das, was sie mit ihren Händen macht: Faden für Faden legt sie über die Nägel ihrer Strickliesl, zieht sie geschickt mal drunter, mal drüber, um sich dann über die entstandenen lilafarbenen Schnüre zu freuen.
Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Individualiät steigt
Die 60 hat Maria Neumann noch lange nicht erreicht, allerdings hat sie das erwischt, was in den vergangenen drei Jahren vor allem viele junge Menschen gepackt hat: Das Handarbeitsfieber. Stricken, Häkeln oder Nähen ist nicht mehr nur ein Rentnerphänomen, auch junge Frauen tun es mit immer mehr Begeisterung – auch in Magdeburg. In Zeiten des aufkeimenden Marktes von Billigmodeketten und -produkten steigt das Bewusstsein für Nachhaltigkeit und der Wunsch nach Individualität, nicht nur bei der Mode, sondern auch bei dem
Spielzeug für das eigene Kind. Nach einer Statistik der Onlinesuchmaschine Google stieg in Sachsen-Anhalt seit 2011 beispielsweise das Interesse an dem Stichwort „Do it yourself“ auf einen Suchvolumenindex von 64, einer quantitativen Größe aller Nutzersuchanfragen. Im Bundesdurchschnitt ist das zwar immer noch niedrig, es beweist allerdings, dass sich der Drang, mit selbstgeschaffenen Dingen in verschiedenen Bereichen von anderen abzuheben, konstant entwickelt hat. Das macht sich in Magdeburg nicht nur dadurch bemerkbar, dass auf Kreativmärkten im Projekt 7 oder in den Messehallen viel mehr als nur eine Händlerin ihre selbstgeschaffenen Arbeiten den Hobby-Individualisten präsentiert hat.
Über 300 Magdeburger verkaufen selbstgemachte Produkte bei DaWanda
Ein anderer Indikator: vermehrt wagen die Kreativen auch den Schritt in die Selbstständigkeit und bieten ihre handgemachten Accessoires bei verschiedenen Onlinemarktplätzen an. Allein bei DaWanda verkaufen nach Angaben der Pressesprecherin Ina Froehner derzeit über 300 Magdeburger ihre selbstgemachten Produkte und das oft nur als Nebenerwerb. Wer kann, mietet sogar einen kleinen Laden, um seine handgemachten Arbeiten angemessen präsentieren zu können, wie die Label „liebeswert.design“ und „be:strange“ seit kurzem in Stadtfeld oder auch „Luminiah“ seit 2011 in der Buckauer Klosterbergestraße.
Allerdings hat Maria mit der Handarbeit nicht angefangen, um damit Geld zu verdienen. Stattdessen dienten ihr Bruder und ihre Mutter als Inspirationsquelle: „Ich fand es toll, Dinge selbst machen zu können, die dann auch kein anderer haben würde“, erzählt sie. Doch allein das ist es nicht, was auch an der Universität die Studentinnen in die Mensa treibt, um sich bei einem Strickkurs einzuschreiben. Heidi Köhler, Inhaberin der Werkstube
„Kunst & Hobby“, meint: „Stricken oder Häkeln ist auch eine Art Selbstbestätigung, denn wenn man sich einen Pullover selbst anfertigt und dafür dann ein Kompliment bekommt, ist es natürlich umso schöner. Mit einem Industrieprodukt klappt das nicht.“
Bis zum selbstgestrickten Pullover ist es allerdings ein weiter Weg, bei dem man schnell an der eigenen Geduld scheitern kann. Die 22-jährige Maria stand anfangs vor dem gleichen Problem, bis sie ihre Strickliesl von ihrem Bruder zu Weihnachten geschenkt bekam. Nur Schnüre zu stricken war allerdings irgendwann zu langweilig. Ihr Bruder, ihre Mutter und das Internet halfen ihr letztendlich, Größeres in Angriff zu nehmen. Gerade im Internet kursieren etliche kostenlose Anleitungen, die Maria auch beim Socken stricken geholfen haben. Dabei war es egal, wie unmöglich es für einen Anfänger erschien, Maria wollte herausgefordert werden, nähte ihre erste Handytasche, strickte warme Filzschuhe. Wenn dann mal eine Naht oder eine Masche nicht gut saß, war das egal, denn es war das Ergebnis eigener Anstrengungen, es war handgemacht und damit individuell.
Stricken oder Häkeln ist auch eine Art Selbstbestätigung
Dass Hobbykreative wie Maria, die erst seit kurzer Zeit nähen, stricken oder häkeln, sich nicht mit den Anfängerdingen begnügen wollen, bemerken auch die, die ihnen die Stoffe und Materialien liefern, aus denen trendige Handytaschen und kuschelige Winterschals entstehen. Suse Planke, Inhaberin von Purpurstern, verkauft seit über fünf Jahren Stoffe verschiedenster Muster in Stadtfeld: „Die Mentalität, das Gefühl fürs Nähen hat sich in den vergangenen drei Jahren rasant verändert. Während die Leute vor sechs Jahren eher mit einfachen Dingen angefangen haben, sind sie jetzt mutiger, wollen Loopschals nähen. Wenn da mal ein Faden an der falschen Stelle rausguckt, ist das kein Problem“, sagt sie.
Hauptsache selbstgemacht
Hauptsache selbstgemacht, das findet auch Maria. Die lilafarbenen Schnüre, die während ihres einmaligen Einsatzes bei dem Musical auf dem Bühnenrand entstanden sind, liegen jetzt nicht irgendwo herum, das wäre ja viel zu langweilig. Die hat sie einfach zu einer Tasche zusammengenäht. Die benutzt sie zwar nun nicht mehr so häufig, allerdings wird sie sich sicher daran zurückerinnern, wie es war, ihre erste eigene Tasche anzufertigen, auch wenn sie mittlerweile größere Projekte anstrebt, wie eine eigene Weste zu stricken. Wenn man etwas erreichen will, muss man manchmal auch kleinere Schritte wagen