
© Engelhardt
Charly Hübner
Charly Hübner setzt sich, wie er es nennt, gern „elegant in die Nesseln“. Heißt: wenn schon Herausforderung, dann bitte so groß, dass man „eigentlich nur scheitern kann“. Nachdem er nach über 20 Jahren als Darsteller in Theater, Fernsehen und Film begonnen hat, auch hinter der Kamera zu arbeiten, stellt er sich weitere zehn Jahre später seiner ersten Theaterregie. Und hat sich dafür nichts weniger als „das wahrscheinlich dickste Buch der Welt“ vorgenommen: „Krieg und Frieden“, das Jahrhundertepos von Lev Tolstoi. In Magdeburg.
Der Plan, eine Theaterregie zu übernehmen, lag schon lange auf dem Tisch. Doch es brauchte die freundschaftliche Einladung der Schauspielleitung in die „vielleicht krasseste aller Städte im Osten“ (sic!), um das Vorhaben im eng getakteten Kalender einzupassen. Ein Zufallstreffen mit Roland Schimmelpfennig, renommierter Autor zahlreicher Dramen und Dramatisierungen, brachte den passenden Stoff: Schon vor 15 Jahren hatten die beiden „Krieg und Frieden“ am Wiener Burgtheater umsetzen wollen. Der Stoff lag bühnenreif, aber ungespielt in der Schublade. Wäre nicht jetzt seine Zeit gekommen – trotz oder gerade wegen des russischen Angriffskriegs?
Statt Wien also Magdeburg – wo Osten und Westen wie kaum anderswo zusammenprallen, wie Hübner findet, wo die sowjetische Besatzungszone Spuren hinterlassen hat und wo man darum „ganz andere Gespräche führen kann, als zum Beispiel in Hamburg“. Beim morgendlichen Cappuccino etwa käme er ins Gespräch mit den Leuten, sähe manche seelische Narben und höre von interfamiliären Spannungen zwischen „denen, die nicht verstehen können, warum Putin eigentlich der Doofe sein soll, und denen, die es gutheißen, dass die Ukraine unterstützt wird.“ Diese Spannungen mitten unter uns denkt Hübner, während er inszeniert, immer mit. Ebenso die sich täglich überschlagenden Weltereignisse.
„Krieg und Frieden“ ist eine 1.600-seitige Montage aus beinahe militärhistorischen Beschreibungen der Kriege Russlands gegen Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts und satirischen Porträts der damaligen Adelsgesellschaft („Fast wie eine Soap!“). Vor der Kulisse großer historischer Schlachten kämpfen Sprosse mehrerer Klans – allen voran Andrej, Nikolaj, Natascha und Pierre – um Liebe, Erbe, Heldentum und Sinn. Tolstoi schrieb das Werk rund 50 Jahre später – „aus einer Depression heraus, weil er nicht verstehen konnte, warum die Leute nicht aufhören können, einander zu bekriegen.“ Eine Depression, die Charly Hübner nachvollziehen kann: „Was ich so furchtbar finde, ist, dass wir 200 Jahre später die gleichen Verhältnisse haben. Immer noch gibt es diesen russisch-europäischen Druck, der sich in Gewalt, in Krieg entladen will.“
Um das (leider) Zeitlose des Stoffes zu betonen, wirft Hübner hinsichtlich Musik, Kostümen und Bühnenbild „alles zwischen 1860 und der Gegenwart“ zusammen. Seifenoper-Szenen wechseln mit chorischen Kriegsbeschreibungen, Textflächen mit Ausagiertem. Heraus kommt eine Inszenierung „wie ein gutes Gulasch, in dem die Gewürze einander bespielen“ und ein umwerfendes Ganzes ergeben. Das 10-köpfige Ensemble wird sämtliche Register ziehen, um jene Emotionalität zu erzeugen, die sich Hübner vom Theater wünscht: „Mich interessiert nicht, dass die Zuschauer etwas nur rational durchdringen. Entscheidend ist, dass sie emotional angefasst werden und das Theater gewissermaßen völlig aufgerüttelt verlassen.“ Aufgerüttelt und im Bewusstsein, dass Frieden in erster Linie eine Entscheidung ist.

© Engelhardt
Schauspielhaus/Theater Magdeburg
Otto-von-Guericke-Straße 64, 39104 Magdeburg
Theaterkasse: eine Stunde vor Vorstellungsbeginn