
© Kerstin Schomburg
Das Floß der Medusa
Wir sind die Speerspitze der Zivilisation: kulturvoll, respektvoll, kompetent. Aber was, wenn wir uns jäh in einer Extremsituation wiederfinden? Auf einem Schiff etwa, eben noch abenteuerlustig unterwegs in ein verheißenes Land, gekommen um zu bleiben – plötzlich aber auf Sand gelaufen und Rettung nicht in Sicht? So geschehen den rund 400 französischen Passagieren, die 1816 mit der Fregatte Méduse auszogen, sich die kürzlich von England zurückerhaltene Kolonie in Westafrika zu erobern. Darunter ein Querschnitt der Gesellschaft: der Gouverneur in spe, Militärs, Bauern, Lehrer, Priester – alles, was es braucht, um in der Fremde eine neue Gesellschaft aufzubauen. Eine zivilisierte natürlich, wie in guten alten Zeiten. Nach französischer Revolution und Napoleonfeldzügen hatte man auf dem Wiener Kongress nämlich den Reset-Knopf gedrückt und alte Hierarchien wiederhergestellt. Weil die neu eingesetzten Befehlshabenden zwar Macht, nicht zwingend aber auch Kompetenz hatten, erreicht die Méduse nie ihr Ziel. Sie sinkt.
Man ahnt es: Die Rettungsboote bieten längst nicht allen Platz – überhaupt sind sie hochrangigen Funktionären vorbehalten. Für 150 weitere Männer (und eine! Frau) wird aus Teilen des sinkenden Schiffs ein 20 mal 7 Meter großes Floß zusammengeklaubt – ein Floß, das seine Last kaum fassen kann. Nach 13 Tagen wird es von einem vorbeiziehenden Schiff aufgegriffen – mit 15 Überlebenden an Bord. 15! Die Anderen waren einer Meuterei, dem Wahnsinn, dem Hunger oder ihren Mitreisenden zum Opfer gefallen. Survival of the fittest.
Publik und populär wurde die frappierende Geschichte durch Augenzeugenberichte eines Schiffsarztes und eines Ingenieurs, die nach deren Rettung in Zeitungen veröffentlicht wurden und bis heute Künstler aller Couleur inspirieren. Zu diesen gesellen sich nun Chefdramaturg Bastian Lomsché, Regisseurin Mirjam Loibl und ihr sechsköpfiges Ensemble, die aus dem Stoff mit Textpassagen, Improvisation und Körpereinsatz einen Theaterabend entwickeln. Für Loibl gibt die Historie zahlreiche „Anstöße zum Weiterdenken“. Stehen wir nicht gewissermaßen an einem ähnlichen Punkt wie die eroberungswütigen Schiffbrüchigen: Steuern wir nicht, übermütig wie wir sind, sehenden Auges in die Katastrophe? Und sind erst einmal alle Gesetzmäßigkeiten aufgehoben: Wie weit her ist es dann noch mit unserer Moral? Wer darf ins Rettungsboot, wer nur aufs Floß, wer wird gar zurückgelassen? Sind wir die Speerspitze der Zivilisation, kulturvoll, respektvoll, kompetent?
Die Geschichte um Medusas Floß birgt noch ein pikantes Detail: Die mit Funktionären besetzten Rettungsboote hätten das Floß ziehen sollen; angeblich waren die Seile gerissen. Die Augenzeugen jedoch berichten, ein Offizier hätte die Seile eigenhändig gekappt …
Zu den Spielterminen von "Das Floß der Medusa" ab dem 22. März im Schauspielhaus

© Engelhardt
Schauspielhaus/Theater Magdeburg
Otto-von-Guericke-Straße 64, 39104 Magdeburg
Theaterkasse: eine Stunde vor Vorstellungsbeginn