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Ausschnitt aus Nora Fingscheidts Adaption von "The Outrun".
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© Philip Leutert
Nach „Systemsprenger“ nun ein Film zum Thema Alkoholismus: Nora Fingscheidt.
Für ihr fulminantes Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ wurde Filmemacherin Nora Fingscheidt mit diversen internationalen Preisen bedacht. Der Erfolg ermöglichte der gebürtigen Braunschweigerin, 2021 das Projekt „The Unforgivable“ mit Sandra Bullock und Viola Davis zu realisieren. Nun adaptierte die 41-jährige die Autobiografie „The Outrun“ von Amy Liptrot, die ihren Weg aus dem Alkoholismus beschreibt. Das Drama startet am 05. Dezember, die Hauptrolle übernahm der irisch-US-amerikanische Superstar Saoirse Ronan („Lady Bird“). Wir sprachen mit Nora Fingscheidt.
Frau Fingscheidt, hegen Sie eine Vorliebe für zerrissene weibliche Charaktere?
(lacht) Dass es Frauen waren, ist ehrlich gesagt Zufall, weil die beiden letzten Filme über die Schauspielerinnen zu mir kamen. Vielleicht war es auch kein Zufall, weil man eine geeignete Regisseurin suchte. Bei Benni (Anm.: „Systemsprenger“) war es mir wichtig, dass die Protagonistin ein Mädchen ist. Ich wollte nicht nur das Klischee der wild gewordenen, gewalttätigen kleinen Jungs bedienen, es sollte explizit ein Mädchen sein. Bei den beiden Charakteren danach hat es sich einfach so ergeben. Dass mich aber eher zerrissene Figuren interessieren, die mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen haben, ist sicherlich so. Ich finde es einfach spannender, diesen inneren Konflikt zu erzählen, als den holden Helden, der gegen den schrecklichen Bösewicht kämpft.
Sie haben das Drehbuch gemeinsam mit der Romanautorin Amy Liptrot geschrieben. Welche Aspekte waren ihr besonders wichtig?
Amy wollte vor allen Dingen darauf achten, dass der Film trotz aller nötigen Fiktionalisierung und Vereinfachung im Kern die Wahrheit der Geschichte beibehält. Es war auch mein Wunsch, das Drehbuch gemeinsam mit der Buchautorin zu schreiben. Die Autobiografie einer Person zu verfilmen, die nicht bereits prominent ist, birgt eine riesige Verantwortung ihr und ihrer Familie gegenüber in sich. Amy hingegen muss mit diesem Film leben, solange sie auf dieser Erde weilt. In Orkney – einer sehr kleinen Community – wird wohl ein Großteil der Menschen diesen Film sehen. Ich wollte, dass sie und auch ihre Familie danach noch stolz und erhobenen Hauptes durch die Straßen Kirkwalls laufen können. Deshalb war es mir wichtig, dass wir so eng wie menschenmöglich zusammenarbeiten. Natürlich muss ich trotzdem schauen, dass ich genug Zeit allein mit dem Buch und dem Prozess habe. Als Regie brauche ich einen eigenen Zugang zu dem Thema, um künstlerische Entscheidungen treffen zu können. Ich wollte keinen Dokumentarfilm machen. Es war diese Balance zwischen Fiktion und Realität, die den Film bis zum Ende begleitet hat.
Saoirse Ronan war schon besetzt, bevor Sie zum Projekt stießen. Ein Glücksfall?
Ja, total. Ich weiß nicht, ob ich mich ohne diese Besetzung getraut hätte, das Buch anzufassen. Wenn man diese Autobiografie liest, sieht man, dass sie gewiss nicht einfach verfilmbar ist. Es handelt sich um eine Essaysammlung aus Tagebucheinträgen, die manchmal innerhalb eines Satzes vier Zeitebenen umfassen. Es sind innere Gedankenprozesse, die dort stattfinden. Am Anfang dachte ich immer: „Um Gottes Willen! Wie soll das denn ein Film mit einer Geschichte von A bis Z werden?“
Sie sind das Wagnis trotzdem eingegangen?
Ja. Je mehr ich davon gelesen und Saoirse im Kopf hatte, dachte ich, dass es schon genial wäre, wenn man es hinbekäme. Es wurde immer mehr zu einer Herausforderung. Die Frage war, wie eine Verfilmung aussehen müsste, damit sie als Film funktioniert, aber gleichzeitig dem Buch gerecht wird. Wenn ich große Zweifel hatte, dachte ich immer: Hey, es ist Saoirse. Es gibt nur eine Handvoll Schauspielerinnen auf dieser Welt, die tragen können, dass der halbe Film allein auf einer einsamen Insel spielt. Und sie ist eine davon.
Wie haben Sie sich auf den Orkney-Inseln akklimatisiert?
Das war ein längerer Prozess. Wir sind immer wieder dorthin gefahren. Es gab die erste Recherchereise, dann die zweite. Einmal haben wir nur das Lammen gefilmt. Die Lambing-Season ist im April. Dann waren wir wieder weg und kamen nochmal zurück, um diese Nesting-Bird-Study in den Klippen zu filmen. Es war ein langsamer Prozess des gegenseitigen Beschnupperns.
Gab es auch in der Realität gesellige Tanzabende mit den Einheimischen, wie im Film dargestellt?
Das „Muckle Supper“ ist ein Fest der Insel Papa Westray, das einmal im Jahr im November stattfindet. Die haben es für uns im September nachgestellt und dokumentarisch filmen lassen. Wenn man auf so einer kleinen einsamen Insel mit 60 Leuten wohnt, hat man zum Teil mehr Austausch mit Mitmenschen, als wenn man zwischen Millionen anderen in der Großstadt wohnt. Das wundert einen schon.
Ist Alkoholismus im Filmgeschäft verbreitet?
Es gibt ihn, auf jeden Fall. Ob die Filmbranche stärker von Alkoholismus betroffen ist als andere Berufsgruppen? Da fehlen mir die Zahlen. Alkoholismus ist eine Krankheit, die sich in der Mitte der Gesellschaft abspielt. Niemand kann dem Thema Alkohol aus dem Weg gehen. Die einen können gut damit umgehen und die anderen eben nicht. Ich glaube, jeder kennt jemanden im engeren oder weiteren Umfeld, der den Umgang mit Alkohol nicht händeln kann. Gerade für junge Menschen – und ich würde sogar behaupten, gerade für junge Frauen – ist es nicht selbstverständlich, dass es als Problem wahrgenommen wird, wenn es ernst wird. Es heißt immer nur: „Ach, du trinkst eben gerne und feierst halt ein bisschen zu viel. Du bist doch keine Alkoholikerin!“ Das ist eine Krankheit, die man ü-50 Arbeitslosen zuschreibt, aber nicht einer Frau Anfang 20. Ich höre oft von Betroffenen, dass es brutal schwierig ist, ein soziales Umfeld aufrechtzuerhalten, ohne zu trinken. Auf jeder Party oder bei Festigkeiten heißt es immer: „Ach komm, jetzt stell` dich nicht so an. So schlimm ist das nicht.“ Deshalb fand ich es spannend, Alkoholismus - und vor allem seinen Heilungsprozess - aus der Perspektive einer jungen Frau erzählt zu sehen.
Was ist Ihre Droge?
(lacht) Das sage ich nicht. Da gibt es über die Jahre verschiedene. Ich habe aber sicherlich auch Suchtpotential. Es müssen nicht unbedingt klassische Drogen sein. Man kann nach sehr vielen Dingen süchtig werden oder ein ungesundes Verhältnis entwickeln. Das ist mir per se sehr vertraut. Alkohol ist nicht meine Droge - war es nie und wird es auch nicht werden.
Sie machen Ronas Gedankenwelt sichtbar. Wie sind Sie diese Aufgabe angegangen?
Auch da ging es erstmal darum, zu reduzieren. Das Buch ist so reich an all diesen Geschichten, Gedanken, Mythen, Fakten und wissenschaftlichen Beobachtungen. Mir war es wichtig, all das zu behalten, weil es Amys innere Welt repräsentiert und zu zeigen, was sie für ein nerdiger Mensch ist. Andere Leute schreiben in einem Buch über die Heilung vom Alkoholismus bestimmt keinen halbseitigen Absatz darüber, unter welchen physiologischen Gesetzen eine Welle bricht. Man muss schon Bock darauf haben, sich in so etwas hinein zu versetzen. Das fand ich eben auch so besonders. Das macht Amy als Menschen aus.
Worin bestand hier Ihr Balanceakt?
Darin, dass diese Nerd-Ebene auch immer etwas damit zu tun haben sollte, wo sich die Filmhandlung gerade befindet. Es sollten nicht nur ein paar lustige Fakten über Orte oder eine Lehrstunde über die menschliche DNA sein. Wir mussten schauen, dass es auf einer abstrakten Ebene mit Ronas Zustand in der Geschichte korrespondiert. Künstlerisch war mir wichtig, dass diese Nerd-Ebene so frei wie möglich dargestellt war und nicht nur aus wiedergegebenem Archivmaterial bestand. Es sollte so grenzenlos wie Amys Gedankenwelt sein. Alles ist erlaubt, Archivmaterial, Fotografien, Zeichnungen, Animationen - egal was, Hauptsache es passt.
Sind Buch und Film auch ein Plädoyer für ein entschleunigtes Leben?
Das würde ich generell nicht so sagen. Jeder muss schauen, was ihm guttut. In Amys Fall war es eben diese Zurückgezogenheit, die ihren Heilungsprozess ermöglicht hat. Das geschah aber schon zu einem Zeitpunkt, in dem sie alle Brücken abgebrochen hatte. Sie konnte nicht zurück nach London und bei ihren Eltern bleiben, weil sie gemerkt hat, dass das alles zu eng ist. Ihr blieb nur die Flucht nach Norden. Absurderweise ist es genau dieser Ort der Einsamkeit, wo Amy/Rona sitzt und mit Astronauten chattet – auch so ein schräges Bild für jemanden, der Einsamkeit, aber auch Verbindung braucht – wo sie es geschafft hat, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Ob das für jeden so ist? Ich würde nicht jedem empfehlen, zwei Winter alleine auf Papa Westray zu verbringen. Manche Leute könnten dort auch depressiv werden und gar nicht heil wieder herauskommen. „The Outrun“ ist kein allgemeines Plädoyer für Einsamkeit, sondern eine spezielle Geschichte.
Ist Ihnen auf den Orkneys ein Wachtelkönig begegnet, der im Film eine Rolle spielt?
Ich habe ihn gehört, einmal. Aber leider nicht gesehen. (lacht)
Natürlich kann man den Reiz nachvollziehen, international zu arbeiten. Wir benötigen aber auch hierzulande tolle Geschichtenerzähler.
Ja, klar. Für mich ist „The Outrun“ zumindest zur Hälfte ein deutscher Film. Das ganze Team ist dasselbe Kernteam wie bei „Systemstrenger“. Unser Kameramann Yunus Roy Imer und ich haben schon zusammen in Ludwigsburg studiert. Der Editor Stephan Bechinger und ich genauso, wie die Komponisten und die Soundabteilung. Wir haben den Film zwar ein Jahr lang gedreht und vorproduziert, aber das zweite Jahr der Postproduktion hat hier in Berlin stattgefunden. Für mich war es eher wie eine Mischung aus den beiden ersten Projekten. Ich hatte das Gefühl, dass man mit „The Outrun“ die große weite Welt mit nach Hause bringt. Klar wurde der Film auf Englisch gedreht, er spielt ja auch in Schottland. Aber für mich ist es kein ausländisches Projekt.
Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer „Systemsprenger“-Schauspielerin Helena Zengel?
Ja, immer mal wieder. Viel per WhatsApp. Wir sind immer noch im Austausch und das letzte Mal haben wir uns im Februar auf der Berlinale gesehen. Da hatten wir ein 5-Jahre-„Systemstrenger“-Revival-Treffen. Helena ist jetzt eine junge, schöne Frau und schon lange kein Kind mehr. Und sie ist ganz anders, als sie damals war. Aber wir werden den Kontakt nicht abbrechen.