Die Barbaren – Willkommen in der Bretagne
Ein Gespräch mit Regisseurin und Schauspielerin Julie Delpy
Madame Delpy, gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie zu Ihrer Geschichte inspiriert hat oder mussten Sie nur die Abendnachrichten anschauen?
Das Drehbuch basiert teilweise auf der Tragödie, die sich während der Flüchtlingskrise ab 2012 abspielte, auch wenn es sich um eine anhaltende Krise handelt. Ich begann, sehr traurige Nachrichten über Menschen zu sehen, die im Mittelmeer oder an der Grenze zu Polen starben. Aber ich sah auch Reportagen über französische Dörfer, die Menschen aufnahmen. Es war irgendwie seltsam, wie sehr mich die Tragödie berührte, aber auch amüsant, wie freundlich manche Franzosen waren. Einige Leute hatten vorgefasste Meinungen, wie syrische Flüchtlinge sein würden. Langsam wuchs diese Geschichte, bis ich zu meinem Produzenten sagte: „Hören Sie, ich würde gerne etwas darüber schreiben. Ich möchte einen Co-Autor finden. Wir können zusammenarbeiten und zunächst dokumentarische Recherchen anstellen.“ Wir interviewten syrische Flüchtlinge und eine Organisation, die Flüchtlinge aufnimmt. Der Film basiert mehr oder weniger auf jenen Menschen, mit denen wir gesprochen haben. Aber ein großer Teil der Komödie basiert tatsächlich auf realen Ereignissen.
Ihr Film könnte ohne größere Abänderungen auch in Deutschland spielen. Sind wir uns in unseren Stärken und Schwächen doch ähnlicher, als oft behauptet wird?
Ich denke, die Menschen sind sich in ihren Schwächen, aber auch Stärken sehr ähnlich. Dieser Film hätte auch in Deutschland, Italien oder Schweden gedreht werden können. Diese Situation könnte in vielen Ländern eintreten. Aber vor allem in Europa könnte es so passieren. Als der Krieg in der Ukraine begann, stellten wir fest, dass viele unserer Freunde die Ukrainer willkommen hießen, was großartig war. Ich kritisiere nicht, dass Menschen ukrainische Flüchtlinge willkommen heißen. Aber wir waren gerade dabei, für den Film über Syrien zu schreiben und zu recherchieren. Uns wurde klar, wie schwierig es für syrische Flüchtlinge war, in einigen Ländern aufgenommen zu werden.
Inwiefern?
Es gibt verschiedene „Klassen“ von Flüchtlingen. Es gibt die erste Klasse, die zweite Klasse und die dritte Klasse. Und es existieren definitiv teilweise auch Rassismus und Islamophobie. Es ist definitiv schwieriger, ein muslimischer Flüchtling zu sein als ein christlicher. Blond mit blauen Augen: So funktioniert das. Das ist interessant, denn was sagt das darüber aus, wer wir sind? Es sagt eine Menge aus, zumindest für mich. Wir lassen zu, dass in einigen Ländern Massaker geschehen, die uns in anderen Ländern vielleicht entsetzlich vorkommen würden.
Es gibt eine Menge Frauenpower in Ihrer Geschichte. Trotzdem schlägt sie nie in Männerfeindlichkeit um, wie es deutsche Produktionen aktuell gern tun. Denken Sie, der Film wird Frauen und Männern gleichermaßen gefallen?
Ich finde, die Männer im Film haben ein paar mehr Schwächen. Aber selbst der schlechteste Charakter im Film hat einen Teil in seiner Persönlichkeit, den ich mag – auch wenn ich ihn als Person nicht mag. Es macht mir immer noch Spaß, ihn zu filmen, und ich versuche immer noch, ihn zu verstehen. Es liegt daran, dass ich aus einer Familie komme, die hin- und hergerissen war zwischen meinen Eltern, die sehr liberal waren, und dem Rest, der sehr rechts eingestellt war. Eine Großmutter war sehr links und sehr aufgeschlossen und eine andere war ein bisschen rassistisch. (lacht)
Warum lachen Sie?
Ich lache, weil sie sehr lieb war, aber eben auch rassistisch. Das ist lustig. Ich habe vor Jahren ein Interview mit Obama gehört, in dem er sagte, dass seine weiße Großmutter ein bisschen rassistisch war. Es ist interessant, wenn man Menschen kennt, die rassistisch sind, weil man weiß, dass sie falsch liegen. Man weiß, dass man nicht mit ihnen übereinstimmt, aber man versteht, wer sie sind. Es gibt nicht nur schwarz und weiß. Es gibt all diese Grauzonen. Ich habe versucht, in dem Film all diese Ebenen einzufangen. Manche Menschen sind rassistisch, ohne zu wissen, dass sie rassistisch sind. Manche Menschen sind rassistisch, ohne rassistisch sein zu wollen. Manche Menschen sind nicht rassistisch, aber sie sind trotzdem ein bisschen rassistisch. Und ich lache, wenn ich das sage, weil Rassismus so absurd ist. Er ist in so kleinen Dingen verwurzelt.
Glauben Sie an das Gute in jedem Menschen?
Ja und nein. Es gibt offenbar 4 % der Bevölkerung, die soziopathisch sind. Für diese Menschen ist es eine klinische Situation. Die Mehrheit der Menschen ist nicht schlecht, aber ich denke, das System um sie herum kann sie zu schrecklichen Menschen machen, die schreckliche Dinge tun. Das ist die Banalität des Bösen. Man kann das Böse in schreckliche Dinge verwandeln, wenn man glaubt, das Richtige zu tun. Ich habe vor Jahren einen Film gedreht, er hieß „Hitlerjunge Salomon“. Ich spiele darin die Rolle der Leni, die ein Nazi ist. Ich erinnere mich, dass ich mit dem Autor und dem Regisseur gesprochen habe, und sie zu mir sagten: „Spiel sie nicht wie jemand Böses. Spiel sie wie jemand, der glaubt, dass er das Richtige tut.“ Sie glaubt wirklich, dass sie gut ist. Das ist die Gefahr der Manipulation des Volkes und des Populismus. Die Leute verstehen nicht, dass sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen. Aber sie sind selbst nicht böse. Das ist eine sehr komplexe Situation, und ich glaube, wir sind gerade mitten drin.
Einmal mehr spielt Ihr Vater eine wichtige Rolle in einem Ihrer Filme. Beraten Sie sich während der Arbeit am Drehbuch mit ihm oder bekommt er erst das fertige Skript, wie die anderen Schauspieler auch?
Er erhält das fertige Drehbuch. Mein Vater kann am Set gut sein, er ist ein geborener Schauspieler. Aber er ist kein Autor. Natürlich inspiriert er mich, sonst würde ich ihn nicht in meinen Film aufnehmen. Aber man legt ihm ein fertiges Drehbuch vor. Dann können wir diskutieren, wenn ihm etwas nicht gefällt. Meistens macht er tatsächlich, was ich sage. Manchmal gibt es kleine Hürden, weil er nicht leicht zu dirigieren ist. Aber meistens tut er einfach, was ich sage. Und bei diesem Film hat er ziemlich wortgetreu genau das gemacht, was ich gesagt habe und was im Drehbuch steht.
Im Film fällt der Satz: „Wäre die Welt doch nur besser.“ Tragen Sie die Hoffnung in sich, dass ein Film wie dieser die Welt wenigstens ein kleines bisschen besser machen kann?
Ich weiß nicht, wie real die Macht des Films ist. Aber ich habe das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten ist und sich in die falsche Richtung bewegt. Vielleicht ist dieser Film ein Beweis dafür, dass mein moralischer Kompass am richtigen Ort war. Das mag ein egoistisches Bestreben sein, aber immerhin geht es mir um Empathie und die Sorge für andere. Zumindest wird sich mein Sohn nicht für mich schämen. Das mag nicht viel erscheinen, aber für mich ist es wichtig.
Ohne zu viel verraten zu wollen, wird im Film auch ein Flüchtlingslager gezeigt. Wo war das und was für Erfahrungen haben Sie dort gesammelt?
Es war das Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien an der Grenze zu Syrien. Auf der anderen Seite konnte man syrische Panzer sehen. Wahrscheinlich heute nicht mehr, wegen des Regimewechsels. Ich bin mir nicht sicher, in was für einer Situation sich die Gegend jetzt genau befindet. Diese Menschen waren vor Baschar al-Assad geflohen, und sobald sie die Grenze wieder betreten würden, würden sie getötet werden. Es ist ein gigantisches Flüchtlingslager mit vielen Menschen. Ich habe die genaue Zahl vergessen, aber es ist das größte Flüchtlingslager der Welt. Es sind Menschen, die fliehen, um zu überleben, um nicht getötet zu werden. Das ist eine sehr intensive Erfahrung. Es hat etwas extrem Dramatisches, ein Flüchtling zu sein. Sie haben keinen Status, sie dürfen zwar in Jordanien arbeiten, aber sie sind immer noch Flüchtlinge. Die Kinder gehen innerhalb des Lagers zur Schule. Die Menschen können nicht frei reisen. Sie befinden sich in der Schwebe. Das ist es, was ein Flüchtling ist: Man ist sein ganzes Leben lang in der Schwebe.
Besonders für Kinder ist das eine dramatische Erfahrung.
Ja. Ich habe mit dem Übersetzer mit vielen Kindern gesprochen, und sie träumen davon, dies oder das zu werden. Aber das Schulsystem besteht nur aus ein paar Stunden am Tag. Die Möglichkeiten, ihre Träume wahrzumachen, werden sehr begrenzt sein. Wir mussten mit der Armee reisen, die uns beschützt hat, denn manchmal ist im Lager etwas los. Einige von ihnen sind syrische Rebellen. Es war also nicht ganz einfach. Aber es war eine sehr gute Erfahrung. Die Leute waren absolut freundlich und nett, trotz der angespannten Situation. Ich hatte meinen Mann dabei, also war alles gut. Er konnte mich beschützen. (lacht) Nicht wirklich, nur ein Scherz. Ich hatte viel über Flüchtlingslager gelesen, aber bevor man nicht dort war, versteht man nicht, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein.
Warum haben Sie Ihren Lebensmittelpunkt in die Vereinigten Staaten verlegt?
Ursprünglich bin ich aus Frankreich geflohen, weil ich das Geschäft in Frankreich gehasst habe. Als ich 18 Jahre alt war, habe ich gesagt: Ich haue hier ab! Ich kann nicht ertragen, was in diesem Geschäft vor sich geht. Ich will nicht ins Detail gehen, aber ich habe es wirklich gehasst. Ich fühlte mich einfach erdrückt. Es war gruselig und unheimlich. Ich kam nach L.A. und traf dort auch eine Menge unheimlicher Leute. (lacht) Es ist überall unheimlich. Ich glaube, man kann sogar aus dem Filmgeschäft aussteigen, und es ist immer noch unheimlich für ein junges, schönes Mädchen wie ich es war. Ich habe mir mein eigenes Ding und meinen eigenen Freundeskreis aufgebaut und bin dem ganzen Scheiß aus dem Weg gegangen. Ich war schlau und wurde von harten Leuten erzogen. Und ich bin selbst hart im Nehmen.
Ich habe meinen Weg gefunden, ohne in die Fallen dieses ganzen Mists zu tappen. Aber ich habe auch nicht das Hollywood-Ding gemacht, weil ich nicht auf Hollywood-Filme stand. Ich habe mich für Indie-Filme entschieden. In den 90-er Jahren war die Zeit für Indie-Filme großartig, so dass ich gute Indie-Filme machen konnte. Jetzt hat die Indie-Welt wirklich zu kämpfen. Ich habe diese Welle des Filmemachens mitgemacht und ein paar Filme mit den coolen Jungs gedreht. Jetzt bin ich dort, weil mein Kind dort ist. Mein Ex, der Vater meines Sohnes, lebt dort. Er liebt Amerika. Ich würde gerne öfter nach Europa zurückkehren, aber ich habe mein Kind hier, und damit hat es sich.
Die Fragen stellte André Wesche.
Die Regisseurin:
Julie Delpy
stand schon mit fünf Jahren auf einer Theaterbühne. Ihre erste Filmrolle hatte sie 1985 in Jean-Luc Godards „Detective“. Mittlerweile hat sie knapp 50 Filme gedreht. Ab 2002 brachte sie auch mehrere Musik Alben heraus. Und 2007 gab sie dann ihr Regiedebüt mit „2 Tage Paris“. Schon hier übernahm sie auch die Hauptrolle.