Die Koordinaten der Demokratie

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© Malte Jäger

Die Friedliche Revolution jährt sich gerade. Damals gingen die Menschen auf die Straße, um ihren Unmut zu dokumentieren und weil sie für ihre Forderungen nach Meinungsfreiheit, sagen wir, gegen Bevormundung einstehen wollten. Fünfundzwanzig Jahre später finden wir Altvertrautes wieder: Beispielsweise die Angst, Unwillkommenes zu sagen. Man duckt sich wieder. Stimmt der Eindruck?

Schorlemmer: Es ist nicht nur die Angst da. Es gibt auch neue Feigheit. Die Feigheit schürt die Angst, die Angst die Feigheit. Obwohl wir in einem Rechtsstaat leben, in dem man für sein verbrieftes Recht auch kämpfen kann, in dem man Institutionen findet, an die man sich wenden kann, in dem die Gewaltenteilung funktioniert. Trotzdem ist die Angst latent vorhanden, dass man, wenn man irgendwie auffällig wird, bei der ersten, der zweiten oder der dritten Entlassungswelle dabei ist. Die Angst davor, ins ökonomische Abseits zu fallen, führt zu einem vorauseilenden Gehorsam und zu einer Anschmiegsamkeit – das nennt man heute Flexibilität – und diese wiederum zu einer neuen Gebrochenheit und Gebogenheit. Dahinter steckt die erzwungene Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit, dass nur der etwas ist, der etwas hat. Wenn du ökonomisch nichts bringst, bist du auch nichts.

Was ist die Konsequenz?

Positiv wäre, wir hätten eine miteinander konkurrierende Gesellschaft. Haben wir aber nicht. Eine konkurrierende Gesellschaft schließt auch die Kultur eines kooperierenden Handelns mit ein. Wir aber leben in einer Kultur des Wegkonkurrierens, des Niederkonkurrierens des Anderen. Die Angst, wegkonkurriert zu werden entspricht der Anstrengung, andere wegzukonkurrieren. Die ethische Messlatte heißt, ich zitiere Goethe aus den „Geselligen Liedern“: „du musst herrschen und gewinnen oder dienen und verlieren, Amboss oder Hammer sein“. Das „oder“ ist furchtbar. Es macht deutlich, dass der Gedanke der Kooperation, dass man jemanden, der nicht mitkommt, mitnimmt, ein völlig fremder geworden ist.  

In der DDR nannte man das Solidarität.

Da war einiges bemerkenswert in der DDR. Dass man sich auch um die Schwachen gekümmert hat, war etwas Positives. Nur hat man die Starken nicht motiviert und gefordert. So kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Wo die Starken unterfordert werden, entsteht die organisierte Verantwortungslosigkeit. Aber umgekehrt, dass nur der zählt, der gewonnen hat (und der Rest wird notdürftig alimentiert), lässt eine Gesellschaft auch nicht funktionieren. Die Antriebskraft dieses globalen neoliberalistischen, kapitalistischen Weltbildes ist die blanke Gier. Wo die Gier in solcher Weise losgelassen wird, müsste ein Bundespräsident heute Tacheles reden, wie Köhler es gewagt hat, der davon sprach, dass sich die internationalen Finanzmärkte zu einem Monster geworden seien, das in die Schranken gewiesen werden müsse. Das sagte ein Ökonom! Und unser Bundespräsident schwadroniert über „mehr Verantwortung in der Welt.“  

Welcher Art sind die Enttäuschungen fünfundzwanzig Jahre nach dem politischen Umbruch?

Die erste Enttäuschung: Der Staat zieht sich aus zu vielen Dingen heraus und frönt einem Privatisierungswahn. Ein Beispiel: Berlin hatte die Wasserversorgung privatisiert. Ein sogenannter Investor hat die Wasserversorgung übernommen, guten Gewinn daraus gezogen, aber nichts reinvestiert. Als die Bürger durch Volksentscheid die Privatisierung wieder rückgängig gemacht haben, nahm der Investor die Gewinne mit, die Sanierungskosten werden vergesellschaftet, die zahlen die Bürger. Immer mehr zeigt sich: Die Sieger der Geschichte waren nicht die Sowjets, sondern der real existierende Kapitalismus, der sich am inneren Zerfall des nie real existierenden Sozialismus goutiert und daran kräftig verdient hat.

Die zweite Enttäuschung ist, dass nichts, keinerlei Lebenserfahrungen, die in der DDR gemacht wurden, in Deutschland zählen, im Gegenteil: Wenn du dir etwas Gutes tun willst, muss du unabdingbar ein Westdeutscher werden. Hauptsache, du drischst öffentlich auf das ein, was da war und sagst nicht etwa, dass es auch Kommunisten gab, die es ehrlich meinten.

Die dritte Enttäuschung: Frau Dr. Merkel sprach kürzlich von der marktkonformen Demokratie. Bitte? Es geht um demokratiefähige Märkte, aber nicht um eine marktkonforme Demokratie. Will man dem Primat, dass die Politik in der DDR gegenüber den Märkten hatte, jetzt das Primat der Märkte gegenüber gegenüberstellen? Der Haben-Modus hat gesiegt. Das ist eine tiefe Enttäuschung.

Die vierte, eine ganz große, Enttäuschung ist, dass der Demokratieeuphorie die -depression folgte. Natürlich ist auch der Typ von Politiker daran mit Schuld, der zuerst auf die Umfragewerte schielt, bevor er formuliert, was er will, falls er überhaupt noch etwas „Innengeleitetes“ hat und Wiedererkennbares tut.

Das Wegbleiben von der Wahl ist auch eine Bewegung. Zunächst gingen die Leute aus der DDR weg, bevor die, die geblieben waren, auf die Straße gingen. Wenn sie heute nicht an die Wahlurne gehen, ist das auch ein Weggehen.

Aber diesmal ist das sehr problematisch. Das Wegbleiben ist der Sargnagel der Demokratie. Ich habe bei all dem, was ich am System zu kritisieren habe, kein Verständnis für die, die einfach wegbleiben. Die demokratische Abstinenz könnte uns, und das muss man sich klar machen, bescheren, dass wir eines Tages wieder in einer Diktatur aufwachen.

Die fünfte  Enttäuschung ist, dass mit dem Hinweis auf fehlendes Geld Bildung  und Kultur nicht so gefördert werden, wie sie das brauchten. Das gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn wir nicht mehr wissen, wo wir geschichtlich herkommen, müssen wir uns nicht wundern, dass es in der Medienlandschaft niemand mehr gibt, der mal, bevor sich alles auf Putin einschießt, guckt, wie denn das ganze Geschehen aus russischer Sicht aussieht, was da in den letzten fünfundzwanzig Jahren passiert ist. Die Errichtung der Nato-Stützpunkte rings um Russland, beispielsweise. Niemand sieht, wie Russland in diesen fünfundzwanzig Jahren wieder und wieder gedemütigt wurde, bis zu dem verhängnisvollen Satz Barack Obamas im März 2014 auf dem EU-USA-Gipfel: „ Russland ist eine Regionalmacht“. Ja, mit immer noch abschussbereiten Interkontinentalraketen. Da ist vonseiten Russland viel passiert an Abrüstung, aber nicht an Anerkennung. Aber Spiegel und FAZ überschlagen sich im Abschaffen des deutschen Pazifismus, der wohl eine Art Krankheit wie Ebola sein muss.

Die sechste Enttäuschung ist, dass der 9. Oktober von den westdeutschen Eliten so erfolgreich weggelassen wurde zugunsten des 3. Oktober, dem sogenannten „Tag der Einheit“. Die konnten das einfach nicht ertragen, dass das kleine Land dem neuen Deutschland etwas Einmaliges geschenkt hat, das es nämlich in der Lage war, aus einer gestürzten Ein-Parteien-Diktatur eine Demokratie aufzubauen, ohne Blutvergießen. Und eine letzte tiefe Enttäuschung muss auch noch genannt werden. Wir haben alles, was man negativ in der DDR über den Kapitalismus gesagt hat, für kommunistische Propaganda gehalten. Wir haben für Meinungsfreiheit gekämpft, aber wo bleiben heute die Proteste gegen die Riesenmastanlagen, gegen bodenvernichtende Industrialisierung der Landwirtschaft, für schonenden Umgang mit der Natur und Respekt vor der Kreatur, die nur dem billigsten Fleischkonsum dient. Also, es gibt es vieles, wogegen man anreden muss.

Lässt es sich denn ändern?

Ändern lässt sich das nur, wenn der Staat in zwei staatserhaltende Dinge investiert, sehr viel stärker investiert, als er das heute tut: In Bildung und Kultur, verbunden mit der Lösung der sozialen Frage. Das sind Koordinaten unserer Demokratie, nicht bloß auf dem Papier. Und das braucht wache Mitbeteiligung der Bürger.

Danke für das Gespräch.  

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