„Wir blicken selten zurück“

Unter dem Titel „2001“, ein Verweis auf ihr Gründungsjahr, legen die vier Jungs von Tokio Hotel ihr sechstes Album vor. Und im April will die Band auf „Beyond The World“-Tour gehen, die sie quer durch Europa führt. Gitarrist Tom Kaulitz und Bassist Georg Listing über Happy People, melancholische Musik, Tanzen und das Leben in Berlin und Los Angeles.

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© Lado Alexi

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„Happy people make me sad”, heißt es im ironischen „Happy People”, einem „Feel-Good-Song für alle Außenseiter“. Sind gespielt fröhliche Menschen typisch für die Musikwelt von heute?

Tom Kaulitz: Ja. Das gilt aber nicht nur für die Musikwelt. Wir beobachten allgemein eine Welt, die nicht immer echt und authentisch ist. Gerade wenn man ein bisschen down ist, kann das einen noch mehr runterziehen und einsam fühlen lassen. Ich glaube, das, was Bill im Text beschreibt, können viele nachvollziehen.

„Manche Dinge ändern sich nie/Wir fühlen uns fehl am Platz“ heißt es in „When we were Younger“. Woran liegt das?

Georg Listing: Im Kontext der Band ging uns das immer so. Selbst bei den ersten Auftritten als Kinder auf Open-Mic-Bühnen waren wir immer die Jüngsten. Unsere Songs waren auf Deutsch getextet, während alle anderen Englisch sangen. Wir durften überhaupt nur rein, weil wir dort aufgetreten sind, sonst war das Mindestalter 16. Wir fühlten uns schon immer anders. Bill könnte da wahrscheinlich viel besser drüber sprechen, weil er mit seinem Aussehen schon immer ,out of this world‘ war.

In den ersten Jahren spalteten Tokio Hotel die Gemüter. Hat es Sie damals verletzt, so etwas zu hören?

Kaulitz: Nein, das hat uns nicht verletzt. Mich können grundsätzlich nur Dinge verletzen, in denen auch ein Körnchen Wahrheit steckt. Bill und ich haben einen Podcast, „Kaulitz Hills – Senf aus Hollywood“. Darin gibt es die Rubrik „Kaulitz Kolumna“, wo wir uns lustig machen, was die Klatschpresse so schreibt. Mittlerweile haben wir unseren Spaß daran, uns den Ball mit den Boulevardmedien hin und herzuspielen. Die beweisen uns mit ihren Schlagzeilen immer wieder, wie kreativ sie sind. Diese Kategorie ist nur so winzig, weil die Inhalte der Schlagzeilen so weit weg von jeglicher Wahrheit sind.

Kommt Tokio Hotel international zum Teil besser an als in der Heimat?

Kaulitz: Wir kommen von Land zu Land anders an. Wir haben in Lateinamerika z.B. sehr junge Fans. Dort hat man das Gefühl, dass die Band immer wahnsinnig aktuell bleibt. Und in den USA gilt Tokio Hotel bis heute als cooler Indie-Act. Und dann gibt es Länder wie Deutschland und Frankreich, wo wir kommerziell wahnsinnig erfolgreich waren.

Viele Menschen in Deutschland machen sich derzeit Sorgen ums Fortbestehen der US-amerikanischen Demokratie. Wie fühlt es sich an, in diesen Zeiten in Amerika zu leben?

Kaulitz: Ehrlich gesagt genauso wie im Rest der Welt. Die Midterm-Wahlen liefen ja für die Demokraten besser als vorausgesagt. Ich kann nicht sagen, dass unser Leben von Angst bestimmt ist, das war es noch nie und wird es hoffentlich nie sein. Wir sind grundsätzlich Optimisten und wollen positiv in die Zukunft schauen. Letztendlich vertraue ich immer auf die Vernunft der Menschen.

Georg, wie schauen Sie aus der Ferne auf Los Angeles?

Listing: Ich besuche die Jungs gerne in L.A., aber meine absolute Wahlheimat ist Berlin. Mir ist L.A. einfach zu groß und zu laut.

Kaulitz: Zu schönes Wetter, zu coole Restaurants! Georg mag es einfach im regnerischen Berlin!

Listing: Nee, mir sind in L.A. einfach zu viele happy People unterwegs, um es mit unserem Song auszudrücken.

Die Pianoballade „Berlin“ ist eine Liebeserklärung an die Hauptstadt. Auf welche Weise inspiriert Berlin Ihre Arbeit?

Listing: Ich glaube, Berlin ist eine der inspirierendsten Städte der Welt. Ich kenne keinen anderen Ort, der so viele Gegensätze aufweist. Allein der Sommer, im Gegensatz zum Winter. Es fühlt sich jedes Jahr an, als ob die komplette Bevölkerung ausgetauscht wird. Im Sommer haben alle beste Laune und das Leben spielt sich nur draußen ab, während im Winter alle gefühlt depressiv mit Kerzen in ihrer Wohnung sitzen.

Kaulitz: Berlin ist eine unglaublich inspirierende Stadt. Sie hat eine wahnsinnig gute Musikszene von Indie bis Elektronik. Sie ist international ein absoluter Tastemaker. Berlin ist unser Band-Zuhause.

Warum ist Ihre Musik eigentlich so melancholisch?

Kaulitz: Das kommt daher, dass Bill und Gustav eher melancholisch und Georg und ich halt die positiven Typen in der Band sind.

Und diese Pole befruchten sich gegenseitig?

Kaulitz: Eigentlich sind wir alle positive Typen, aber Bill, der bei uns hauptsächlich die Texte schreibt, hat auch eine andere Seite. Er war schon immer extrem nachdenklich. Als er etwas zwölf Jahre alt war, schrieb er den Song „Leb' die Sekunde". Aus heutiger Sicht ist das ein wahnsinnig tiefgründiger, melancholischer Text. Ich weiß gar nicht, wie unsere Musik klänge, wenn Bill immer glücklich wäre. Am liebsten gehe ich mit ihm ins Studio, wenn er nicht so gut drauf ist, weil er dann die besten Songs schreibt.

Machen Sie heute bewusst Musik für Erwachsene?

Kaulitz: Wir machen Musik für alle, die guten Geschmack haben. Wir hatten nie vor, für eine bestimmte Zielgruppe zu schreiben.

Listing: Wir haben das Privileg, Musik zu machen, die wir selbst lieben und fühlen und gern hören, wenn wir mal traurig sind. Und dann hoffen wir, dass sie auch noch ein paar anderen Menschen da draußen gefällt.

Sie haben zu „Happy People“ einen Tanz einstudiert. Ist Ihnen das Tanzen in die Wiege gelegt?

Kaulitz: Mir persönlich ja, Georg weniger. Ich habe selbst den schwierigsten Tanz innerhalb von einer Minute erlernt.

Listing: Toms großer Traum ist, einmal im Leben von „Let’s Dance!" angefragt zu werden und eine Staffel mitzumachen. (lacht)

Kaulitz: Die Wahrheit ist, ich werde oft als Coach angefragt. Dass ich denen hinter den Kulissen allen mal beibringe, wie das richtig geht.

Auf Instagram kann man sehen, dass Heidi Klum auch zu „Happy People“ tanzt. Ist sie selbst ein großer Tokio-Hotel-Fan?

Kaulitz: Ich meine, anders geht es ja wohl gar nicht. Meine Frau muss natürlich die Musik lieben, die ich mache. Das versteht sich von selbst. Dieser Tanz war ein ganz spontanes Ding. Wir waren bei Daði Freyr in L.A. zum Konzert eingeladen, der ja Featuring-Artist ist auf „Happy People". Eigentlich wollten wir die Nummer spontan auf der Bühne performen, aber leider haben wir uns dann nur Backstage getroffen und ich habe kurz gezeigt, wie dieser Tanz geht.

Welche Einstellung braucht man, um es als Fremder in Los Angeles zu schaffen?

Kaulitz: L.A. ist überschwemmt mit Leuten, die große Träume haben und auf harte Realität treffen. Es ist eine unglaublich teure und harte Stadt. Viele talentierte Künstler haben teils zwei, drei Jobs, um sich über Wasser zu halten, weil sie es nicht schaffen, auf kreative Weise zu überleben.

Listing: Man trifft dort fast niemanden, der in L.A. geboren und aufgewachsen ist.

Kaulitz: Das ist auch das Schöne an L.A. Man trifft Leute aus aller Welt, die hier hinkommen, weil sie Ziele und Träume haben. Nur ein ganz kleiner Prozentsatz von denen schafft es auch wirklich.

Haben Sie nach über 20 Jahren Tokio Hotel noch Träume?

Kaulitz: Auf jeden Fall. Wir haben Träume, die hoffentlich in näherer Zukunft auch erfüllt werden. Das sind Großprojekte, von denen wir noch nichts verraten dürfen. Wir würden auch gern mal wieder in Asien unterwegs sein.

Tom, in Ihrem Podcast haben Sie über die Idee gesprochen, das ehemalige Gefängnis Salinenmoor in Celle bei Hannover zu kaufen, um da einen Nachtklub, ein Restaurant oder ein Hotel draus zu machen. Besteht dieser Plan noch?

Kaulitz: Das sind eher private Pläne, da haben wir unglaublich viel vor. Ich will zum Beispiel eine Bäckerei, einen Club und einen Weihnachtsmarkt aufmachen. Das mit der JVA in Celle war zuerst ein Witz, aber Bill und ich wollten schon immer mal einen Nachtclub haben. Wer regelmäßig „Kaulitz Hills“ hört, weiß, dass wir gerne mal feiern. Wir können uns auch vorstellen, ein eigenes Tokio Hotel aufzumachen. Das beste Hotel der Welt gepaart mit der besten Musik der Welt. Sie merken schon, es gibt viele Pläne.

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