Stadtläufer: Shylock hat es nie gegeben

by

© DATEs Medienverlag

Das „Judensau“-Relief an der Wittenberger Stadtkirche muss nach einem Urteil des Oberlandesgerichtes Naumburg nicht entfernt und in ein Museum verbracht werden, sondern darf unter dem Dachsims hängen bleiben. Die Kontroverse wird heftig und bundesweit geführt, als wäre das Wittenberger Borstenvieh ein vereinzeltes Schandkunstwerk, nach dessen Entfernung unsere Gotteshäuser endlich mit diesem dunklen Teil ihrer Geschichte abgeschlossen hätten. Dabei gibt es deutschlandweit mehr als zwei Dutzend solcher Skulpturen – und zwar nicht nur in oder an eher weniger beachteten Kirchen wie in Ahrweiler, Bützow oder Zerbst, sondern auch in oder an prominenten Sakralbauten wie dem Kölner Dom, der gleich zwei davon besitzt. Und auch der Dom zu Magdeburg verfügt über ein solches Sandsteinrelief. Es befindet sich in der Ernst-Kapelle und in einem guten Zustand. Ob wir die Kulturhauptstadt-Bewerbung endgültig vergessen können, wenn das ruchbar wird, berührt die Frage, ob es sich hierbei um ein kunstgeschichtlich bewahrenswertes Bildnis oder nur um die zutiefst beleidigende Geschmacklosigkeit handelt, die es ja zweifellos ist. Dass die Wittenberger Judensau so sehr in den Fokus gerückt ist, hat natürlich mit dem Reformationsjubiläum 2017 zu tun; sie schmückt bzw. verunziert die Hauskirche eines der größten Judenhasser der deutschen Geschichte, der freilich zugleich ein großer Reformator war. Außerdem ist diese Kirche das älteste Gebäude der Stadt und gehört zum Unesco-Welterbe. Und ein Erbe ist eben manchmal auch unangenehm – und große Männer wie Luther sind  nicht selten voller Widersprüche. Das muss man aushalten. Das Relief hängt schließlich nicht unkommentiert als aktuelles Statement der Kirche an selbiger, sondern wird von einer in den Boden eingelassenen Gedenkplakette flankiert, die darauf hinweist, dass die Skulptur schon über 700 Jahre dort hängt und welche Folgen der Judenhass, dem sie Ausdruck verleiht, gezeitigt hat. Man kann sich natürlich auch auf die Position zurückziehen, dass das Hochmittelalter in über 2.000 Jahren erfolgreicher christlicher Geschichte nur ein Vogelschiss ist, aber dann läuft man irgendwann Gefahr, dass die nachfolgenden Generationen eines Tages glauben, die erste künstlerische Darstellung, mit der Juden verunglimpft wurden, sei eine Karikatur gewesen, die im „Stürmer“ erschienen sei und zum Judenhass seien die Deutschen erst von den Nazis verführt worden, die wie Außerirdische in unsere Kulturnation eingedrungen seien und uns von unseren geliebten jüdischen Mitbürgern entfremdet hätten. Welches Ziel nehmen die Bilderstürmer als nächstes in Angriff? Kann man denn Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ wirklich noch spielen? Der Jude darin ist nicht nur geldgierig, sondern auch blutdürstig – ein übles judenfeindliches Klischee. Doch um Shakespeare nicht gleich verbieten zu müssen, wird man ihn vermutlich umschreiben. Aber ein „Kaufmann in Venedig“ ohne einen blutdürstigen Shylock wäre genauso spannend wie eine bereinigte Geschichte ohne jegliche Schande. 

Stadtkirche St. Marien Wittenberg

Jüdenstraße 36, 06886 Wittenberg View Map

03491 404415

Back to topbutton