"Wir sind kein Ereignis"

Die Landeszentrale für politische Bildung feiert 2021 ihr 30-jähriges Jubiläum. Hier geben die beiden führenden Köpfe Einblicke in ihre vielfältige Arbeit, sprechen über die größten Bedrohungen für die demokratische Gesellschaft, die Herausforderungen des Radikalismus, über Minecraft-Seminare und warum die junge Generation ihr Hoffnungsträger ist.

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© Engelhardt

Als die Landeszentrale für politische Bildung 1991 eröffnete, waren das Jahre, die durch die „Himmelfahrtskrawalle“ und die brutale Ermordung von Torsten Lamprecht in Erinnerung sind.

Cornela Habisch: Ja, das waren die „Baseballschlägerjahre“. Die Ereignisse haben dazu geführt, dass politische Bildung, Politik und Zivilgesellschaft stärker Konsequenzen ziehen mussten als bisher. Damals wurde ein landesweiter runder Tisch gegen Ausländerfeindlichkeit organisiert, bei dem sich Vereine, die Bürgergesellschaft, die Kirche und der Landtag engagiert haben. Anfang der 2000er kamen dann verstärkt neue Herausforderungen durch organisierte rechtsextremistische Tendenzen dazu. Auf die haben wir gleich reagiert, indem wir Menschen die Möglichkeit gegeben haben, sich zu vernetzen und demokratisch zu engagieren.

Damals wurde Ihre Institution gern als „neue Staatsbürgerkunde“ bezeichnet. Damit galt es, sich auch auseinanderzusetzen.

Maik Reichel: Während die Staatsbürgerkunde damals versuchte, den Menschen rote Scheuklappen aufzusetzen, sind wir das Gegenteil. Wir vermitteln unabhängig, dass jeder denken und auch sagen darf, was er will. Insofern sind wir keine Pressestelle der Landesregierung, sondern wir setzen auf ein überparteiliches ausgewogenes Programm – und Kontroversität.

Habisch: Anfang der 1990er Jahre war unsere Herausforderung, Grundlagen der Demokratie und politischen Pluralismus zu vermitteln, also Wissen über all das, was ein demokratisches System ausmacht. Es galt, den Menschen nahezubringen, dass sie sich an der Demokratie beteiligen können, ja sollen. Wir sind keine politischen Akteure. Wir sind die, die Diskussionsprozesse anregen können, die Akteure mit unterschiedlichen Perspektiven an einen Tisch bringen.  

Was ist heute die größte Bedrohung für die Demokratie?

Reichel: Da ist ein gewisses Desinteresse an dem, was Gesellschaft bewegt, und ein Nichthinterfragen von Fakten und ihren Quellen. Und Emotionen spielen wieder eine größere Rolle und verstärken die Neigung, einfachen Antworten zu glauben. Aber es gibt selten einfache Antworten. Denkt erst mal kurz nach, prüft, seid kritisch!

Ist am Ende vielleicht die größte Bedrohung, dass die Leute der Demokratie überdrüssig werden und die Werte der Demokratie nicht mehr sehen?

Habisch: Ja, da steckt eine große Gefährdung drin, wenn sich ein wahrnehmbar großer Teil der Bevölkerung aus Angst dem Populismus hingibt und ihm aus Mangel an Information stärker vertraut, als denen, die mit großer Anstrengung politische Entscheidungen vorbereiten und umsetzen, oder auch den seriös arbeitenden Medien.

Reichel: Für uns steht die Herausforderung in einer Zeit, in der Argumente und vor allem Fakten immer weniger zählen, Formate und Inhalte anzubieten. Dabei schauen wir, dass wir zu unseren Diskussionen möglichst kontrovers diskutierende Leute einladen, um die verschiedenen Meinungen abdecken zu können. Wir lernen immer dazu, wie wir am besten mit neuen Themen umgehen können und alle Altersgruppen erreichen.

Stichwort „Skandal um die Unionsabgeordneten im Bundestag“. Was passiert, wenn ausgerechnet die, die von sich behaupten, für die Demokratie zu stehen, sie selbst aktiv einreißen?

Habisch: Auch an solchen Stellen ist es unsere Aufgabe, für die Grundlagen der Demokratie zu werben und gleichzeitig aber auch den Diskussionsprozess anzubieten. Reichen die Kon­trollmechanismen aus? Darüber können wir die Bürgerinnen und Bürger informieren, welche Konsequenzen jetzt gezogen werden. Aber natürlich sind solche Vorfälle Vertrauensverluste, die durch politische Bildung nur schwer auszugleichen sind. Der Vorteil der Demokratie ist, dass wir solche Verfehlungen überhaupt sehen und dass wir Personen zur Verantwortung ziehen können.

Reichel: Es zeigt auch, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist. Aber im Gegensatz zu der Zeit vor über 30 Jahren dürfen wir heute unsere Meinung sagen. Das müssen wir den Leuten auch immer wieder vor Augen halten.

Beschränken sich Ihre Projekte nur auf Deutschland?

Reichel: Wir haben verschiedenste Projekte in Frankreich, Polen, der Ukraine und unserem Partnerland Armenien. In Armenien bauen sie gerade eine Institution auf von unserem Typ, wie wir 1991 angefangen haben. Da arbeiten wir mit den Kollegen dort zusammen, sind Teil einer Bildungspartnerschaft, bieten also unsere Erfahrung an. Das Thema „politische Bildung“ ist dort ganz hoch angesehen. Es macht Spaß, so etwas mit zu entwickeln.

Um politische Teilhabe zu fördern, hat die Bundeszentrale vor Jahren den Wahl-O-Mat erfunden.

Reichel: Unsere Aufgabe ist es, zu befördern, dass die Leute ihr Wahlrecht ausüben, sich bewusst werden „Ich habe die Wahl“. Sie sollen sich mit dem Thema auseinandersetzen. Dazu hatten wir gerade wieder den Thesenworkshop für den Wahl-O-Mat. Wir machen Flyer mit Infos über die Wahl, wie sieht das Ganze aus, was muss ich da machen, wie funktioniert das mit der Briefwahl zum Beispiel, Erststimme, Zweitstimme, das geht an alle Kommunen, Einwohnermeldeämter und alle die damit zu tun haben. Dazu gibt es wieder ein Heft „Wählen in leichter Sprache“, genauso wie kleine Filme zum Beispiel zum Thema Wahlhelfer. Und man findet uns mit dem Thema Wahl auch auf Facebook, Twitter, Instagram, auch dort werden wir zum Wählen aufrufen und darüber informieren.

Was halten Sie vom Wahlrecht mit 16?

Habisch: Es ist ein Thema für die politische Bildung. Darüber hinaus hat der Beirat für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt das Thema intensiv diskutiert und gab die Empfehlung, das Wahlrecht mit 16 einzuführen.

Reichel: Die jungen Leute sind politisch und gesellschaftlich bewegter als wir glauben, siehe die Friday for Future Bewegung. Das Interesse ist auch im Bereich Erinnerungskultur und Holocaust groß, in den Veranstaltungen gibt es junge Menschen, die stellen Fragen, bei denen ich als Erwachsener denke: „Wow, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Auf die Frage wäre ich nicht gekommen.“ Ich erlebe da viel Engagement und die Bereitschaft, Bezüge in die heutige Zeit zu knüpfen. Und es gibt ganz neue Wege, sich mit Ideen und Plänen in die Politik einzumischen, die z.B. in Minecraft-Seminaren entwickelt wurden.

Uns stehen dieses Jahr Wahlen für den Landtag und den Bundestag ins Haus. Was wünschen Sie sich für Sachsen-Anhalt?  

Habisch: Eine starke Wahlbeteiligung bei beiden Wahlen und ich hoffe, auf eine Stärkung der demokratischen Parteien. Es muss das Ziel sein, auch bei diesen Wahlen Menschen für demokratische Werte zu begeistern, trotz Pandemie.

Reichel: Ich wünsche mir, dass der Grundkonsens demokratischer und politischer Kultur weiter gefestigt wird und hoffe, dass wir unseren demokratischen Kurs weiter gehen. Ich habe große Hoffnungen in die junge Generation. Wenn ich in die Schulen gehe und mir dort Projekte anschaue, die junge Leute machen, ohne dass sie von uns angeschoben werden, ganz eigene Ideen wie bei „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ – dann habe ich keine Angst um die Zukunft.

Landeszentrale für politische Bildung

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