Schonungslos, wahrheitstreu

Der inszenierte Audiowalk Philisterburg begibt sich auf die Spuren von Jacques Decour, der in seinen Tagebuchaufzeichnungen das scharfsinnig-tragische und zugleich berührende Porträt eines Landes vor dem Untergang notierte.

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© Marburg

Ein 20jähriger Pariser kommt in eine alte preußische Stadt. Im Gegensatz zu seinen Landsleuten liebt er Deutschland, denn Jacques Decour verehrt dessen Literaten. Er ist ein wacher Beobachter, kritisch, oft amüsiert, häufig verwundert oder irritiert, niemals despektierlich oder hasserfüllt. In diesem Magdeburg von 1930 regiert noch immer der Sozialdemokrat Herrmann Beims, dessen fortschrittliche Gesinnung ihr den Namen „Stadt des Neuen Bauwillens“ aufgeprägt hat. Aber es gibt auch andere Tonlagen. So trifft Decours toleranter Blickwinkel auf eine zunehmend national-rechte Weltsicht, seine mediterrane Lässigkeit auf deutschen Ordnungssinn.

Dieses Spannungsfeld erlebt, wer sich, ausgerüstet mit Smartphone und Kopfhörern, auf den Audiowalk „Philisterburg“ und damit auf Spuren Jacques Decours begibt. Der 90-minütige Trip durch Magdeburg ist genau konzipiert: Selbst Ampelübergänge sind zeitlich eingetaktet, Toneinblendungen schaffen Atmosphäre (Karolin Killig). Die Stimme von Iris Albrecht geleitet zu den dreizehn Stationen. Anlaufpunkte sind markante heutige Gebäude und Straßenzüge, die der historischen Geografie (Beratung Nadja Gröschner) zugeordnet werden. Der Hörer wandert im Lichte der Historie u.a. über den Breiten Weg, Alten Markt, Leibniz- und Hegelstraße, zum Palais am Fürstenwall. Die Stimme von Carmen Steinert klärt über die Standorte auf. Die Texte (Elisabeth Gabriel) berücksichtigen Alltägliches und Politisches. Deutlich markieren sich Unterschiede und Ähnlichkeiten vom Gestern zum Heute: Dem damaligen Besucher präsentiert sich die Altstadt als bunte Metropole: 20 Lichtspielhäuser, drei Tonkinos, Cafés, die farbigen Fassaden von Taut, Barockbauten und eine Fülle eleganter Menschen.

Eine Station des Audiowalks ist das Domgymnasium, gleicher Name, gleiches Gebäude wie heute. Die Schüler aber „spazieren“, wie Decour schreibt, „mit ernster Miene wie Richter, die sich beraten.“ Vor dem Palais am Fürstenwall weht heute jene Fahne, die ein geeintes Europa signalisiert. Für den Tagebuchschreiber wäre das die Erfüllung seiner Visionen. Umso mehr schockiert ihn das nationalistische Denken eines 21jährigen, dessen Idol Hitler ist, und Aufmärsche der SA. So legt sich wie eine Folie immer wieder Damaliges über Heutiges und gleicht das eigene Zeit- und Weltempfinden mit der Vergangenheit ab. Das vor allem macht den Charme des Projektes aus.

Zur Website des Theaters mit den Terminen und der Möglichkeit der Ticket-Buchung für "Philisterburg"

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