Nadja Uhl: "Eine Verbindung zu seinem inneren Kind zu haben, ist das Kostbarste überhaupt."

by

© Constantin Film/Gordon Mühle

Frau Uhl, würden Sie immer folgen, wenn Andreas Dresen („Sommer vorm Balkon“) ruft? Blind zu folgen ist nicht meine Sache. Auch Andy kann das nicht für sich beanspruchen. Aber er ruft meistens mit guten Gedanken und Ideen. Und er ist ein Mensch, dem man gerne folgt. Bei diesem Stoff musste ich nicht lange überlegen.  

Konnten Sie Timm Thaler in Ihrer Jugend sehen oder lesen? Ich kannte die Serie mit Thomas Ohrner und auch das Buch, ich bin damit aufgewachsen. Deshalb war ich auch begeistert, dass sich Andreas dieser Geschichte noch einmal annimmt.   

Was für ein Bild haben Sie sich von der Hausdame Yvonne geschaffen, dieser, wie Sie sagen, „blondgelockten Engelsspionin“? Ich hatte ja das Schicksal, eine kleine Rolle darzustellen. Dann malt man sich Dinge aus, die im Film kein Mensch sieht. Man baut sich seine eigene Geschichte. Unser Alltag besteht aus viel Göttlichem und viel Teuflischem. In meiner Fantasie muss es jemanden geben, der das Ganze ein wenig im Blick behält. Die Hausdamen sehen alle so aus wie ein Alter Ego der Hausdame Yvonne. Mir hat die Idee gefallen, dass sie vom Himmel gesandte Spioninnen sind, die schauen, was der gute, alte Beelzebub da unten so treibt. Diese kindliche Fantasie habe ich mir erlaubt.

Schütteln Sie eine solche Rolle mehr oder weniger aus dem Ärmel? Nein, es wäre falsch, das so zu beschreiben. Ich gehe an jede Rolle mit ganz viel Spielfreude heran. Am Anfang habe ich noch gar nicht so viele Antworten, nur Ideen. Selten kann man so viel Spielfreude entwickeln wie in einem Film von Andreas Dresen. Gemeinsam haben wir eine kleine Figur entwickelt, die noch einmal eine andere Farbe in den Film bringt.       

Die echte Welt funktioniert leider etwas anders als die Geschichte. Nach der Bankenpleite haben die Steuerzahler die Schulden bezahlt. Haben wir unser Lachen weggegeben, ohne eine Gegenleistung zu bekommen? Was sich während der Bankenkrise abgespielt hat, war in den Augen eines fleißigen, normalen Menschen natürlich der blanke Zynismus. Da sind wir doch eigentlich alle einer Meinung. Aber nur selten werden die Veränderungen wirklich benannt, denen wir unterliegen. Es entspricht meiner Weltsicht, dass ich zutiefst an das Gute im Menschen glaube. Vielleicht aus Gründen der Selbsterhaltung. Man muss nur Kleinkinder beobachten, um zu sehen, dass wir gut und solidarisch veranlagt sind. Was aber geschieht mit Menschen, wenn sie sich „Werte“ einreden lassen, die einzig dazu gedacht sind, ihre furchtbare innere Leere zu füllen? Diese Leere kann aber nie materiell gefüllt werden. Das Resultat ist maßlose Gier.

© Constantin Film/Gordon Mühle

Sie meinen, dass wir alle ein neues Werteverständnis entwickeln müssen? Absolut. Die Menschen sind nicht dumm und uninteressiert, die breite Masse ist im Moment noch nicht verführbar. Ich beobachte neuerdings eine unglaubliche Wachsamkeit in Gesprächen um mich herum, und sei es aus einem Instinkt heraus, dass irgendetwas schief läuft. Das ist schwer zu benennen. Wenn man als Erwachsener einen Film wie „Timm Thaler“ sieht, sagt man sich, Gott sei Dank schaut noch jemand hin. Aufs Menschliche. Auf die Liebe. Der Mensch ist analog. Wir sind keine digitalen Wesen. Mit künstlichen Intelligenzen werden wir niemals konkurrieren können. Und auch nicht mit den Algorithmen, die die Banken bei ihren Geschäften einsetzen. Die digitale Gesellschaft ist nicht das größte. Ich glaube, dass die modernsten Menschen bald wieder analog leben werden. Es wird der letzte Schrei sein, sich wirklich zu begegnen, sich zu berühren, zu umarmen. Real im Hier und Jetzt zu sein.  

Welche Fragen müssen wir uns stellen? Die zentrale Frage ist, ob etwas wertvoll sein kann, auch wenn es sich nicht rechnet. Die Antwort kennen wir alle. Wir müssen wieder einfordern, dass sich vieles, was in diesem Leben unbezahlbar ist, sich nicht rechnen muss: Menschlichkeit, Solidarität, unser Miteinander. Die Menschen sind gut. Aber man versucht uns ständig einzureden, dass sie schlecht sind. Wer erlaubt sich das eigentlich?

Woher beziehen Sie Ihren Optimismus? Ich meine das gar nicht so optimistisch. Man schaltet die Nachrichten ein und es wird einem vermittelt, dass die Menschen schlecht und Kriege unabwendbar sind. Das stimmt für mich nicht. Man berichtet kaum von den Guten, nur von den Katastrophen und den wenigen Bösen. Ich glaube, die Medien könnten genauso gut an das Edle und das Hilfreiche in uns appellieren. Es wird im Moment nur nicht getan. Das Böse, im Film in Gestalt von „Lefuet“, hat leichtes Spiel. Unser Konsumverhalten hat Konsequenzen. Und viel mehr Menschen, als wir glauben, wissen, dass man sich zum Beispiel um den afrikanischen Kontinent kümmern muss. Wir müssen die Entwicklungen dort im Auge behalten und über die Rohstoffe nachdenken, die wir von dort beziehen. Bei vielen Menschen spüre ich derzeit eine große Sehnsucht nach wahrhaftigeren Überlegungen. Die eine Wahrheit gibt es natürlich nicht. Aber es findet auch kein ernsthafter Diskurs statt. Viele Menschen wissen doch genau, dass ihr Streben nach dem neuesten Smartphone blöd ist. Ich versuche seit drei Handy-Generationen, auf ein Fairtrade-Gerät umzusteigen und ich schaffe es auch nicht. Ich bin genau so schwach und so verführbar wie alle anderen. Aber diese Verführung findet momentan so plump statt. Das sollte es uns doch eigentlich leicht machen, innezuhalten und nachzudenken.                

Wenn man heute sagt, dass die Mangelgesellschaft der DDR den sozialen Zusammenhalt gefördert hat, wird man häufig angefeindet. Welche Erfahrungen haben Sie damals gesammelt? Das ist doch schlichtweg die Wahrheit. Mangel schmiedet zusammen. Ich bin das Kind einer Familie, die sich in der DDR kritisch engagierte, um Dinge zu verbessern und dadurch wirklich sehr viele Probleme bekommen hat. Trotzdem verteidige ich immer mehr bestimmte soziale Werte, die Solidarität und den humanen Umgang der Normalbürger miteinander, weil auch das uns als Kinder geprägt hat.  Meiner Meinung nach wird heute nicht ausreichend beachtet, dass ein großer Teil unserer Gesellschaft völlig anders sozialisiert ist, nämlich wir aus dem Osten. Unser Fokus lag zwangsläufig nicht auf materiellen Werten, was natürlich auch eine große Sehnsucht nach bestimmten Dingen generiert hat. Uns fallen heute aber vielleicht auch gesellschaftliche Verschiebungen eher auf als Menschen, die diese Sozialisierung nicht erfahren haben. Dazu müssen wir auch stehen. Es gibt durchaus etwas zu verbessern. Und, um Harald Welzer zu zitieren, wir müssen mehr denn je „selbst denken“.

Ich habe Kinder gefragt, welche Botschaft der Film „Timm Thaler“ für sie hat. Ein zehnjähriges Mädchen sagte, dass der Teufel, also Lefuet, den Menschen Dinge eingeredet hat, die sie überhaupt nicht brauchen und die sie bis dahin nie als fehlend empfunden haben. Plötzlich stört Ida ihr missgebildeter Fuß, obwohl er sie vorher nie gestört hat. Das ist es doch. Uns werden Dinge suggeriert, bis wir glauben, dass wir selbst falsch sind. Umgekehrt wird ein Schuh draus.     

Sehen Sie heute noch die Chance, die Ost- und die Westsozialisierung anzunähern? Ja, natürlich. Das ist unsere Chance, die Zukunft zu bewältigen. Es ist übrigens für mich  nichts schlecht daran, Dinge zu haben. Fülle und Reichtum sind doch schön. Aber auf der anderen Seite wird der Bogen gerade maßlos überspannt, das Geld fließt nur in eine Richtung und schafft pervertierte, eigene Welten. Wir folgen gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die ausführlich erforscht wurden. Und jeder Mensch – selbst die zu Recht Wohlhabenden – spüren, dass es eine ungute Entwicklung ist. Sie kann zu nichts Gutem führen. Jeder, der noch einigermaßen bei Verstand ist, weiß, dass man den Wohlhabenden ihren Wohlstand lassen muss. Aber irgendwo ist auch eine Grenze erreicht. Wir können doch unsere Solidargemeinschaft nicht aufs Spiel setzen. Niemand ist ein Loser, weil er es nicht an die Wall Street geschafft hat. Auf der anderen Seite habe ich vor niemandem automatisch Achtung, nur weil er ein großes Auto fährt. Wenn er mir erzählt, wie er sein Geld erworben hat und welchen Beitrag er für die Solidargemeinschaft leistet, bekomme ich vielleicht Achtung. Mit Neid hat das rein gar nichts zu tun. Aber wenn sich jemand in einer Gesellschaft mit Milliarden auf Kosten anderer ein schönes Leben finanzieren kann, müssen auch die Menschen mit weniger Lohn ein glückliches Dasein fristen können.                      

Waren Sie je in Versuchung, eine Rolle nur des Geldes wegen anzunehmen und so ein Stück Seele zu verkaufen? Es gab einen Film, der mir keinen Spaß gemacht hat und den ich nicht mochte. Eine befreundete Produzentin sagte mir während der Dreharbeiten, ich solle einfach nur ans Geld denken. Tatsächlich habe ich mich während dieser Zeit total unwohl gefühlt, angefangen zu rauchen und fünf Kilo abgenommen. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt, weil ich diesen Film so sinnlos und dümmlich fand. Es hat mich wirklich krank gemacht. Andererseits habe ich bereits Werbung für einen Kraftfahrzeughersteller gemacht, als noch das Klischee bestand, dass man das als seriöser Schauspieler nicht tut. Ich habe das Angebot zunächst auch abgelehnt. Dann habe ich einen Mann getroffen, der schon lange für diese Firma tätig war und sein Vater vor ihm auch. Er hat so authentisch erklärt, warum er für die Firma regelrecht lebt. Das hat meine Meinung geändert, ich konnte gut dazu stehen, so mein Geld zu verdienen. Es stand etwas Gutes dahinter.

Sie könnten viel häufiger arbeiten, machen sich aber vergleichsweise rar. Ist die Schauspielerei trotzdem Ihre Leidenschaft? Es ist so eine schöne Möglichkeit, Bereiche des Menschlichen auszuloten, zu berühren, gesellschaftliche Probleme zu durchleuchten und neugierig zu bleiben. Und das alles unter dem Deckmantel einer gewissen Narrenfreiheit. Es ist ein herrlicher Beruf, wenn man ihn ausschöpft. Ich sehe ihn als Kontrapunkt zu meinem echten Leben, als Regulativ zu meinem Alltag. Er funktioniert als Filter für Vieles, was ich tagtäglich erlebe.      

Wie gehen Sie bei Ihrer Kinder-Erziehung mit TV-Konsum und Internet um? Im Internet sind meine Kinder so gut wie gar nicht. Sie sind sieben und zehn und wir hören im Netz vielleicht mal Musik. Ich halte den öffentlich-rechtlichen Kinderkanal für eine gute Sache. Hauptsächlich geht es mir darum, dass meine Kinder herausfinden, worum es im Leben wirklich geht. Wirklicher Wohlstand bedeutet, dass etwas „wohl steht“ und man im Leben glücklich und erfüllt ist. Sie sollen versuchen, glücklich zu werden. Das ist viel. In unserem Werteverständnis bedeutet das nicht, materielle Statussymbole anzuhäufen, sondern auch zu geben. Und immer eigenständig zu denken, Fragen zu stellen. Wir haben das als Kinder gelernt. Wir waren Teil eines - wenn auch verordneten - Kreislaufs, der viel mit Geben und Solidarität zu tun hatte. Der Antifaschismus war ganz ehrlich und aufrichtig. Das Sammeln von Altstoffen genauso.  Und das kritische Denken später. Mit allen schmerzhaften Konsequenzen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so eine Verteidigerin meiner Kindheit werden würde und der Werte, die uns als Kinder geprägt haben. Aber ich sehe, wie wichtig sie heute sind.                         

Von „Timm Thaler“-Autor James Krüss heißt es, er sei ein Leben lang ein Kind geblieben. Ist Ihr inneres Kind noch wohlauf? Mehr denn je. Ich habe mich im Erwachsensein immer seltsam falsch gefühlt, weil ich unterbewusst von meiner Kindheit getrieben wurde. Diese Kindheit war trotz einiger schwerer Brüche von einem familiären Miteinander geprägt. Es war ein kleinstädtisches, mecklenburgisches Umfeld mit einer Familie, deren Zusammenhalt legendär war. Ich genoss Narrenfreiheit und hatte Zeit für Träume. Durch die Brüche im Leben wird man scheinbar eines anderen belehrt. Wir kennen diese Leier: Das Leben ist hart, das Leben ist ungerecht. Das stimmt ja auch zum Teil. Trotzdem habe ich mich geweigert, diese Prozesse in meinem Leben resignativ hinzunehmen. Ich reagiere darauf mit einer kindlichen Renitenz. Eine Verbindung zu seinem inneren Kind zu haben, ist das Kostbarste überhaupt. Ich bin kein Träumer. Ich weiß, wie hart einen das Leben umhauen kann - Krankheit, Tod, Verlust, Schmerzen, die einem zugefügt werden. Aber gerade weil ich Kind geblieben bin, bin auch ein Realist.   

Filmstart: 2. Februar 2017

Back to topbutton