So viel Zeit muss sein!

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Arsch auf dem Sattel, ein Bein am Boden. So warte ich, die Straße kreuzen zu dürfen, doch die sich ins Morgengrauen ergießende Autoschlange reißt nicht ab. Lange war ich Verfechter der „Beherzt-Losfahren“-Theorie, die meist zielführend ist, doch mit meinem Bengel im Sattel denke ich irgendwie mehr über das „Was-wäre-wenn“ nach und bleibe erstmal stehen. Und stehe. Meine Liebste fand unlängst eine recht simple Lösung: Einfach absteigen! Hat man erstmal beide Beine am Boden und steht artig in Wartestellung, tut sich SOFORT eine Lücke auf und ein freundliches Händchen winkt einen auf die andere Seite. Warum nur? Was ist der Grund? Ich bin doch viel langsamer, muss erst wieder aufsteigen. Doch sogar wenn ich ganz gemächlich über die Straße schiebe, wird das wohlwollend zur Kenntnis genommen. Ich bin dann Fußgänger – also einer von Ihnen. Der Autofahrer ist schließlich Fußgänger in Metamorphose. Verpuppt bewegt er sich im Blechkokon durch die Straßen, um gleich danach als prächtig-bunter Fußgänger wieder auf dem Radweg herumzustehen. Bengel und ich freuen uns nun schon auf die nächste Begegnung: Der ­Radweg läuft gemeinsam mit einem Zebrastreifen. Wenn ich führe, ginge das für alle schneller. Dennoch meint jeder Autofahrer: Ein Radfahrer HAT HIER ABZUSTEIGEN! Diese Regel nimmt er mit der Mutter­milch auf. Tiefe Genugtuung durchströmt seinen ganzen Körper, wenn er mich demütig schiebend die Straße queren sieht. Dafür bremst er und hält gern an. Absteigen ist ja der Kniefall des Radfahrers vor den ­wichti­geren Verkehrsteilnehmern. Genüsslich schiebe ich über den ­Zebrastreifen und ergötze mich an seinem dümmlich gönner­haften Lächeln, während er für uns wartet, obwohl er‘s doch so eilig hat und eigentlich schon längst hätte weg sein können.

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