Kurz vor der Wahrheit

In "Kosmos #1 Zungen brechen" lässt Nina von Mechow ihr Team den jahrtausendealten Medea-Mythos sampeln und das Publikum unterschiedliche Orte erkunden.

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© Kathrin Singer

Die letzte Premiere der ersten Spielzeit der nun-nicht-mehr-neuen Schauspiel-Leitung ist gleichzeitig die erste innerhalb einer neuen K-Reihe. Nach „Kerben“ und „Katzengold“ nun „Kosmos“. Hier sollen nichts weniger als unbekannte Zonen im Theater-Kosmos erobert werden, nicht Regisseure am zentralen Schalthebel sitzen, sondern Mitglieder der Crew. Vertreter jener vielfältigen Theaterberufe, die durch ein ganz anderes Prisma blicken. Die Erste ist Bühnenbildnerin Nina von Mechow: „Für mich war das eine Carte Blanche. Ich hätte alles tun können – sogar eine Skulptur ausstellen. Aber mir wurde bewusst, dass ich an Theater besonders schätze, dass viele Menschen gemeinsam an etwas arbeiten. Also habe ich mir ein Team gesucht, auf das ich Lust hatte“. So lud sie das Autorinnen- und Regisseurinnen-Duo „Bäckerei Harmony“ (Leonie Jenning und Martha Mechow), sowie Sound-Designer Sebastian Dieterle ein, mit ihr gemeinsame Sache zu machen. Das heißt in diesem Fall: den jahrtausendealten Mythos der Medea weiterzuerzählen. Komplettiert wurde das Kosmos-Medea-Team durch die Ensemble-Mitglieder Anton Andreew, Philipp Kronenberg, Anna Malesza-Kutny und Oktay Önder. Hört man die Macherinnen, hat das definitiv gefunkt. Vielleicht, weil bei „Zungen brechen“, wie die Crew ihre Performance nennt, jedes Mitglied gefragt ist, den persönlichen Zugang zu Medea einzubringen: So nähert sich Önder dem Mythos tanzend im brüchigen Locking-Stil, Malesza-Kutny interpretiert eine von Dieterle arrangierte Arie aus Cherubinis „Katastrophenoper“ Médée von 1797 und Kronenberg und Andreew lassen Figuren aus Medeas Umfeld zu Wort kommen. „Sampeln“ nennen Jenning und Mechow dieses Spielprinzip. Das Publikum kann selbst entscheiden, wem es Gehör schenkt: Der Clou an Nina von Mechows Setting ist die Unterteilung des Bühnenraumes in drei getrennte Orte, zwischen denen man sich frei bewegen kann. So sieht man fortwährend nur einen Teil der Geschichte, ist „dauernd am uneigentlichen Ort“ und nur „kurz vor der Wahrheit“. Für diese Perspektivenvielfalt eignet sich die Legende um die vermeintliche Giftmischerin und Kindsmörderin besonders: Die Weltliteratur wird nicht müde, sich an ihr abzuarbeiten. Dabei porträtiert sie Medea mal als zauberkundige Furie, die Bruder, Rivalin, Schwiegervater und die eigenen Söhne umbringt – mal als eine durch Intrigen verleumdete und zum Sündenbock für alles Unheil gemachte Fremde in einer skrupellosen Gesellschaft, wie in der Überschreibung von Christa Wolf. Für die Autorinnen Jenning und Mechow ist gerade das interessant: Was löst eine Person, die so gar nicht den gültigen Konventionen entspricht, in uns aus? Mit welchem Interesse betrachten wir sie? Und wie formen wir selbst die Geschichte? „Man macht sich mitverantwortlich, wenn man Medea weitererzählt. Wir geben den Mythos als Schreibende über die Sprechenden an die Hörenden weiter“, beschreiben sie den komplexen Vorgang. Da kann man sich wahrlich die Zunge brechen. Übrigens hat auch Intel bereits Kontakt zu Medea aufgenommen: Die Darsteller tragen Suites in Mikrochip-Optik. Das ist absolut nicht weit hergeholt – schließlich stieß man beim Bau der Fabrik auf archäologische Funde. Und wer weiß, welche Geschichte hier durch neue Geschichten überdeckt und fortgeschrieben wird?

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