Wer bin ich – und wer ist die Frau vor mir?

Das epochale Mütter-Töchter-Drama Im Menschen muss alles herrlich sein erzählt vom Leben in der Sowjetunion von den 1970ern bis ins Hier und Heute.

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© Theater Magdeburg

Zwei Länder, zwei Systeme. Zwei Mütter, zwei Töchter. Dazwischen eine Zeitenwende. Sasha Marianna Salzmanns Buch „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist Familiensaga und historischer Roman zugleich. Da ist Lena, aufgewachsen im ukrainischen Teil der Sowjetunion und nach der Perestroika an der Seite eines Juden ausgewandert nach Deutschland. Und da ist Edi, ihre im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsene, queere Tochter, die das diffuse Gefühl eines Verlustes zwar noch in sich trägt, aber kaum mehr verorten kann – und die darum die eigene Vergangenheit befragt, um die Gegenwart zu verstehen. Salzmann selbst, 1985 in der Sowjetunion geboren, stellte sich dieser Identitätssuche in zahlreichen Interviews mit ukrainisch-stämmigen Frauen.

Als Salzmann das Buch 2021 herausbrachte, war das heutige Ausmaß des Ukraine-Konflikts nicht zu erahnen. Auch noch nicht, als das Theater Magdeburg Regisseurin Alice Buddeberg beauftragte, den Roman auf die Bühne zu bringen. Leider erwies sich beides als prophetisch. Die schonungslose und oft schmerzhafte Tiefenbohrung in der eigenen Biographie (bzw. der der Mutter und der Mutters Mutter) endet bei Salzmann ungefähr mit dem Beginn des Krieges im Donbass. Oder wahlweise mit dem Wahlerfolg der AfD in Thüringen 2014 (wo Lenas emigrierte Familie lebt). Wenn man sich heute mit dem Stoff beschäftigt, komme man nicht umhin, die Aktualität der Ereignisse mitzudenken, sagt Buddeberg. Viele Sätze klängen heute anders als noch bei Erscheinen des Romans.

Buddeberg hat schon häufiger Romane für die Bühne bearbeitet. Im Vergleich zu einem Theatertext bietet ihr Roman ein reichhaltigeres Fundament, in dem sie eigene Schwerpunkte setzen kann. Ihre sechs Darsteller sind für sie „Archäologen der eigenen Geschichte“, eine „ganze Generation, die ihre Vergangenheit befragt“. Dabei tauschen die Spielenden schon mal Rollen – schließlich „verschwimmt im Erinnern alles ein wenig“. Beim Erzählen von Vergangenem kommt es immer auf die Perspektive an: statt: „So war es!“ ein „So könnte es gewesen sein.“

Dieses Leitmotiv hat zentral Eingang auf die Bühne gefunden – in Form einer Giraffe. Allerdings einer irgendwie sonderbaren, nicht-ganz-richtigen: der des georgischen Künstlers Niko Pirosmani, der sie 1905 malte, ohne je eine Giraffe gesehen zu haben (so will es die letzte Szene im Roman). Darüber hinaus werden die Darsteller ihre Tiefenbohrungen in historisierenden Kostümen (russisch, um 1900), auf raumfüllender Sandfläche (man denke an Treibsand, Baugrube, Erdschichten) und mit mehreren Polyluxen (Reminiszenzen an osteuropäische Schulalltage) durchführen.

Das Stück wird übrigens zeitgleich am Thalia Theater Hamburg inszeniert – in einer Bearbeitung von Salzmann selbst. Dass Salzmann diese Parallelität zulässt, zeugt von Vertrauen in den eigenen Text. Alice Buddeberg wird die Hamburger Inszenierung aber erst nach der Magdeburger Premiere besuchen. Wer kommt mit?

Hier findet man die Aufführungstermine

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