Ulrich Noethen: "Jepsen ist die Menschlichkeit abhanden gekommen"

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© Network Movie/Wild Bunch_Georges Pauly

Herr Noethen, Jens Ole Jepsen ist eine Figur, über die man noch lange nachdenkt. Was für ein Bild haben Sie sich von diesem Mann geschaffen? Ich habe ihn zunächst als einen Mann gesehen, der versucht, „das Richtige“ zu machen. So wie die meisten von uns. Er versucht, es in seiner Familie mit der Erziehung richtig zu machen und er versucht, es seinem Brotherrn recht zu machen. Auf einmal scheint es ihm, sich für „das Richtige“ verteidigen zu müssen. Das führt bei ihm nicht dazu, dass er gedanklich beweglicher oder einsichtiger würde. Stattdessen führt es zum starrsinnigen Beharren auf dem eingeschlagenen Weg. Priorität hat für ihn die Erfüllung der Pflicht. Er fragt nicht danach, was diese Pflicht beinhaltet. Jepsen sagt zu seinem Sohn: „Ich möchte aus dir etwas Brauchbares machen.“ Der Sohn soll ein ebenso brauchbares Werkzeug werden wie der Vater.

In der Serie „Charité“ verkörperten Sie Ferdinand Sauerbruch, der dem Nazi-Regime ergeben war und trotzdem gegen das „Euthanasie“-Programm protestierte. Wie kann man bei so vielen Zwischentönen Gut und Böse unterscheiden? Man kann sagen, Sauerbruch hat sich schuldig gemacht, denn er hat sich dem Regime als Aushängeschild angedient, punktum, wir wollen uns hier nicht mit Kleinigkeiten aufhalten. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich ein umfänglicheres Bild. Sauerbruch war eine schillernde Figur, in seinem Handeln und im Auftreten. In der neueren Forschung wird er in viel besserem Licht gesehen als in den 60er und 70ern, da gab es eine Art Belastungseifer. Nach dem Krieg ließ er es sich gefallen, als Halbgott in Weiß gefeiert zu werden. Einige Fakten sprechen eine klare Sprache. Er hat sich als Promi vom Regime einspannen lassen, Dokumente müssen über seinen Schreibtisch gegangen sein, die ihn zum Mitwisser von Euthanasieprogrammen machten. Dann gibt es viele Berichte, u.a. von jüdischen Mitarbeitern, wie sehr er geholfen und unterstützt hat. Seine Nähe zum Widerstand des 20. Juli ist bekannt. Das alles macht es schwer, ein eindeutiges Urteil zu fällen. Man muss sich seines Blickwinkels schon sehr sicher sein, um mit Eindeutigkeit „schuldig“ oder „nicht schuldig“ sagen zu können. Mir scheint, er fühlte sich in erster Linie sich selbst verpflichtet, seiner Berufung in seinem ärztlichen Wirken, seiner Klinik, der „Charité“.

© Wild Bunch/Georges Pauly

Und Jepsen? Bei Jens Ole Jepsen ist es anders, denn er ist eine literarische Figur, mit der Siegfried Lenz etwas über die Mechanismen eines totalitären Systems sagen wollte. Er ist wie ein „Darth Vader“, eine Hülse aus Pflichterfüllung, die Menschlichkeit ist ihm abhanden gekommen. Und doch ist er jemand, der versucht, es richtig zu machen. Eine literarische Figur muss ich nicht verurteilen, aber sie kann mich etwas lehren. Das sind doch die interessanten Fragen: Wann macht man sich schuldig? Wie soll man sich verhalten? Und gibt es die Möglichkeit einer Umkehr? Ich glaube, die gibt es immer wieder. Demnächst wird das Doku-Drama „Die Irrfahrt der St. Louis“ zu sehen sein. Ich hatte die Gelegenheit, den Kapitän Gustav Schröder zu spielen, dessen Hapag-Schiff 1939 mit 900 jüdischen Flüchtlingen an Bord von Hamburg nach Kuba geschickt wurde. Dort verweigerte man ihre Aufnahme, es kam zu einer irrwitzigen Irrfahrt, kein Land wollte sie aufnehmen und Schröder sollte die Menschen zurück nach Deutschland bringen, wo sie schließlich im KZ gelandet wären, das war klar. Er hat sich geweigert.   

Viele Schauspieler sind in dieser Zeit emigriert, andere haben versucht, sich neutral durchzuschlagen und einige haben sich offen auf die Seite der Nazis gestellt. Überlegt man sich als Künstler, welche Entscheidungen man selbst getroffen hätte? Die meisten werden das tun, nehme ich an. Und die Antwort auf diese „Was-Wenn“-Frage ist nicht so einfach zu geben. Ab wann bin ich bereit, alles in Frage zu stellen, auch meiner Kinder Zukunft? Ab wann muss ich es mir gefallen lassen, mindestens Mitläufer genannt zu werden? Diese Fragen kann man sich zu allen Zeiten stellen. Alle von uns kennen Filme, in denen Nazis dargestellt werden. Und diese Nazis sind böse, böse bis zur Karikatur. Wir kennen diese Filme aus Hollywood und aus sowjetischen Filmstudios. Und ich finde es auch ganz legitim, dass da keine großen Differenzierungen gemacht werden. Aber bei der Suche nach der Antwort auf die Frage, wie es zu den beispiellosen Verbrechen der Nazi-Diktatur kommen konnte, kommt man mit einer schlichten Einteilung in Gut und Böse nicht weit.

Wurde in Ihrer Familie über die Nazizeit gesprochen? Mein Vater, selbst Sohn eines Pfarrers, kam mit der „Gleichschaltung“ seiner kirchlichen Jugendgruppe zur Hitlerjugend, war dann beim Arbeitsdienst, dann Soldat in der Wehrmacht und hat nach der Gefangenschaft sein schon vorher ins Auge gefasstes Theologiestudium angefangen. Bei meiner Mutter war es ähnlich, BdM, Arbeitseinsatz in einer Munitionsfabrik. Das Chemie-Studium musste sie aufgeben, um männlichen Kriegsheimkehrern den Studienplatz zur Verfügung zu stellen. Natürlich wurde bei uns zuhause von diesen Erlebnissen gesprochen, sie können sich vorstellen, dass wir Kinder sehr interessiert waren an diesen Widersprüchen. Meine Eltern haben versucht, einzuordnen, was geschehen war. Und sie mussten sich damit auseinandersetzen, dass sie ein Teil dieses unfassbaren Geschehens waren.

Sie sind Jahrgang 1959. War da körperliche Züchtigung noch an der Tagesordnung, wie sie Jepsen im Film praktiziert? In der Schule gab es das. Ich erinnere mich an die „Tatze“, das Lineal auf die Hand. Es gab die Kopfnuss und ich habe miterlebt, wie ein Mitschüler am Kragen gepackt und mit dem Kopf unter den offenen Wasserhahn gedrückt wurde, „damit er aufwacht“. Oder wie Freunde bei sich zu Haus geohrfeigt wurden.

Jepsen und der Maler Nansen waren einmal beste Freunde. Wie wichtig sind Ihnen Freundschaften? Und sind diese auch im Beruf oder eher abseits davon zu finden? Ich würde nicht sagen, dass man im Beruf schwerer einen Freund findet, als im Privatleben. Unter einer Freundschaft verstehe ich, dass ich, genau wie der Andere, nicht darauf schaue, was es mir bringt oder welchen Vorteil ich davon habe. Freundschaft fragt nicht groß nach, woher einer kommt und was er macht. Man fühlt sich einfach verbunden. Natürlich gibt es den guten, alten, besten Freund aus Kindertagen. Freundschaften, die sich über viele, viele Jahre erhalten. Aber es hat eigentlich nichts mit dem Alter zu tun, finde ich.

Filme sind Millionenprojekte. Inwiefern geben Sie sich die Schuld, wenn ein Film nicht funktioniert? Ich fände es schlimm, wenn ein Film zum Desaster geraten wäre und man sagen müsste: „Und weißt du, wer schuld war? Ich!“. Aber in der Regel wird ja so besetzt und gecastet, dass man sich darauf verlassen kann, dass es nicht zum Komplettausfall kommt. Wenn ein Film nicht funktioniert, kann das viele Gründe haben. Aber dass ein einzelner Schauspieler die Verantwortung trägt, kann ich mir kaum vorstellen. Um über die Verantwortung zur Pflicht zu kommen: Pflicht ist ja per se nichts Schlechtes. Sie ist nur die Hülle für etwas, das ich mit Inhalt füllen muss. Eine Verpflichtung ist eine Aufgabe, die von außen an mich herangetragen wird oder die ich mir selbst gebe. Es bedeutet erst einmal nur, ich will und ich möchte, ich soll und ich werde etwas tun. Das ist die Pflicht. Aber dann muss man schauen, was da drinsteckt und wie das begründet ist und wohin das führt. Wohin führt das Ganze?

Tragen Sie die Sorge in sich, dass Deutschland wieder ganz nach rechts rutschen könnte? Ja, aber die ist nicht so groß. So würde ich am liebsten spontan antworten, weil ich mir wünsche, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Aber wenn man sich die jüngsten Entwicklungen anschaut: klar habe ich die Sorge. Ein Viertel der Wähler in Sachsen beispielsweise kann sich offenbar vorstellen, wieder in einer Diktatur zu leben. Andererseits glaube ich, trotz eines besorgten Blickes auf andere „gefestigte“ Demokratien: Wir schaffen das. Vieles ist nicht perfekt. Und es hat schlimme Versäumnisse gegeben. Neue Probleme werden auf uns zukommen. Aber trotz vieler Widerstände wurde doch schon eine Menge geschafft. Und ich sehe nicht, warum sich die Kanzlerin mit diesem Satz verstecken sollte. Wir schaffen das. Durch gemeinsame Anstrengungen. Aber nicht durch Angstmacherei und Hetze und Ausgrenzung.

Seit „Comedian Harmonists“ mussten Sie sich immer wieder mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Wenn man sich als Künstler so sehr an einem Thema abgearbeitet hat und doch wieder rechte Strömungen zunehmen, zweifelt man dann manchmal an der Wirksamkeit seines Tuns? Der Scheiß-Nationalsozialismus hat mich immer wieder beschäftigt, aber ich habe mich nicht daran abgearbeitet. Und da ich keine sehr großen Erwartungen an die Wirksamkeit meiner Arbeit habe, zweifle ich auch nicht daran. Ich trage einen kleinen, wenn auch nicht unwesentlichen Teil zu einem Film bei. Aber man erreicht ja ohnehin vermutlich hauptsächlich diejenigen, die inhaltlich zustimmen, und wenn sie Kritik haben, dann sind es eher Geschmacksfragen. Aber es gibt immer die Hoffnung, den Einen oder Anderen zum Nachdenken zu bringen, ihn für bestimmte Fragestellungen zu sensibilisieren. Ich empfinde es als Aufgabe, nicht nur in der Gegenwart wach zu sein und zu sehen was läuft, sondern es mit dem zu verknüpfen, was gewesen ist. Dafür zu sorgen, dass die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät. Und um auf Ihre frühere Frage zurückzukommen: Ich sehe mich auch in der Pflicht, das so gut wie möglich zu machen.

Vorstellungen zum Film "Deutschstunde", Start: 3.10.

© Engelhardt

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