© Nilz Böhme
Woyzek groß
Marie (Lena-Sophie-Vix) übt eine zerstörerische Faszination auf Woyzek (Michael Ruchter) aus.
140 bpm - beats per minute - ist die Tempoangabe, mit der in einem Porträt des Goethe-Institutes eine actionreiche Regiearbeit Dominik Günthers beschrieben wird. Günther sorgte in der vergangenen Spielzeit mit seiner temporeichen „Tschick“-Inszenierung für Begeisterung bei jungem und erwachsenen Publikum. Sein Markenzeichen nicht nur bei „Tschick“: eine bis an die Schmerzgrenze gehende Körperlichkeit, das Setzen auf ein starkes Ensemblespiel.
„Direktheit und Aggressivität“ nennt es der Regisseur selbst. Chefdramaturg Stefan Schnabel freut sich darauf auch für die neue Produktion „Woyzeck“, bei der Günther mit den aus „Tschick“ bekannten Protagonisten arbeiten darf: Michael Ruchter als Woyzeck, Lena Sophie Vix als Marie und Raimund Widra in der Rolle des Andres. Schnabel, der mit Volker Lösch an dessen Magdeburger Operndebüt „Macbeth“ arbeitete, erschuf zusammen mit dem durch die Dresdener Bürgerchöre bundesweit bekannt gewordenen Regisseur eine damals viel diskutierte Version des „Woyzeck“, in der der Nährboden in der rechten Mitte der Gesellschaft erfahr- und sichtbar gemacht wurde.
In Magdeburg gibt es keine solche thematische Anbindung, vielmehr ist die scheiternde Liebesgeschichte der emotionale Kern. Woyzeck lebt nicht im Plattenbau, sondern in einer Art bürgerlichen Reihenhaussiedlung, in der jeder auf jeden achtet, ein Ausweichen schon wegen der räumlichen Enge nicht möglich ist. Woyzeck und Marie sind ein heutiges junges Paar auf der Suche nach dem kleinen Lebensglück. Doch sie stehen immer unter Beobachtung, es gibt keinerlei Freiraum für die kleine Familie. In diesem Druckkessel entladen sich die aufgestauten verletzten Gefühle, Demütigungen, Zerstörungen von Männlichkeit schließlich in Gewalt. Woyzeck, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, gerät in diesem ausweglosen Umfeld an den Rand der Überforderung und verliert den Boden unter den Füßen, zumal zusätzlich ein anderer Mann auftaucht, der Marie mit neuen Versprechungen ködert.
Stefan Schnabel formuliert den politischen Ansatz aus heutiger Sicht so: „Büchners Fragment entstand 1836, in einer Zeit, in der historisch das entstanden ist, worin wir heute leben, nämlich in einer leistungsorientierten, wissenschaftsgläubigen, gewinnfixierten Gesellschaft. Bei Büchner kann man, weil das historisch neu war, auf jeder Seite im ,Woyzeck’ den Schmerz und die Wut über das Miteinanderumgehen in einer solchen Gesellschaft spüren, was wir mittlerweile schon als selbstverständlich und unabänderlich empfinden.“
Neben Schulklassen, die den Lehrplanklassiker bevölkern werden, orientiert die Inszenierung vor allem auch auf erwachsenes Publikum. „Die Leute können schauen, ob ihre Welt hoffentlich anders ist und sehen, wie es jungen Menschen geht, die sich zurecht finden müssen, ihr eigenes Leben aufbauen und möglicherweise scheitern, weil wir, die Älteren, ihnen keinen Raum dafür geben“, so Stefan Schnabel.