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Herr Wenders, Sie haben gerade an der Anselm-Kiefer-Dokumentation gearbeitet, als Sie ein Angebot aus Tokio erreichte…
Ja, ein eigentlich unmögliches Angebot. Es kam gegen Neujahr vorigen Jahres. Meine Frau und ich waren über Weihnachten eine Weile lang ganz alleine und haben viel geredet. Unter anderem habe ich ihr gestanden, dass ich großes Heimweh nach Japan hätte und dass wir schon so lange nicht mehr da waren. Damals war auch immer noch Pandemie und Japan war im längsten Lockdown aller Länder der Welt. Man kam nicht so ohne weiteres dahin. Dann kommt per Post ein Brief aus Tokio, mit einer offenen Einladung, dahin zu kommen. Die Einladung war recht unwahrscheinlich: Ob ich mir ein architektonisches Unterfangen anschauen würde. 15 große Architekten hätten jeweils was Kleines gebaut, nämlich 15 Toilette! Ich habe erst mal gelacht. Nach Tokio um 15 Toiletten anzuschauen? Bis ich dann die Fotos von diesen kleinen Toilettenpalästen gesehen habe. Da wurde der Vorschlag immer attraktiver.
Wie ging es weiter?
Ich habe die Liste der Architekten gesehen. Davon kannte ich ein paar, einen sogar als Freund, Tadao Ando. Ich fand die Sache eigentlich ganz erstaunlich. Ich war aber voll im Anselm-Film drin. Am ersten Tag nach den Ferien habe ich mit meiner Cutterin geredet: „Sag mal, Maxi, Du schneidest hier schon zwei Jahre lang durch. Willst Du nicht mal Pause oder Ferien machen? Außer Weihnachten.“ Sie sagte: „Ja, ich würde wahnsinnig gerne im Mai 14 Tage lang mit dem Fahrrad los.“ „Das machst du! Und weißt du was? Ich fahre in der Zeit nach Japan.“ Dann bin ich also im Mai dorthin. Es gab ja keine Verpflichtung. Vielleicht könnte ein Fotobuch dabei entstehen, oder eine Serie von Kurzfilmen über die Toiletten und ihre Architekten. Ich konnte auch einfach wieder abreisen und sagen „Nein, inspiriert mich nicht.“. Ich hatte auch ein Arbeitsvisum, sonst wäre ich nicht mal reingekommen. Ich habe die Toiletten gesehen und zwei, drei der Architekten getroffen. Alles sehr schön, sehr beeindruckend. Ich kannte die Toilettenkultur ein bisschen, weil ich etliche Male in Japan war. So etwas hatte ich aber auch noch nicht gesehen, das war neu für mich. Es war mir aber gleich klar, dass das eigentlich kein Filmthema für mich wäre.
Warum?
Ich könnte keine Kurzfilme über Toiletten und ihre Architekten machen. Nicht, weil ich das Thema nicht mochte. Ich war nur sicher, dass es recht müßig wäre. Man macht über Orte lieber keine Dokumentarfilme, sondern lässt die Orte in Geschichten vorkommen. Dann haben sie dort ihren Platz. Das habe ich auch nach ein paar Tagen gesagt. Ich würde die Toiletten wahnsinnig gerne in einem Film vorkommen lassen, falls uns eine Geschichte einfiele. Da ich zur gleichen Zeit angekommen bin, als die Japaner aus diesem irre langen Lockdown zurückgekommen sind und ihre Stadt und Parks wieder in Besitz genommen haben, habe ich auch gesehen, mit wie viel Zurückhaltung und Vorsicht das geschehen ist. Sie hatten eine Hochachtung für ihre Plätze und haben nicht alles niedergetrampelt oder abgerockt. Anders als in meiner Heimatstadt Berlin, wo nach dem Lockdown der kleine Park in meiner Nähe in kürzester Zeit eine Müllhalde war. In einer Woche war er einfach kaputt. Man hat ihn dann ein Jahr lang geschlossen, damit überhaupt wieder ein Grashalm wuchs. Das war in Japan anders.
Nämlich wie?
Die Leute hatten großen Respekt, haben das Allgemeinwohl und gerade durch das Zurückkommen aus der Pandemie nochmal mehr geschätzt. Das hat mir irre imponiert. Eine Geschichte, in der das zum Zug kommt, würde ich gerne erzählen. Dazu brauchte ich natürlich einen Hauptdarsteller. Ich konnte auch „Der Himmel über Berlin“ nur erzählen, weil ich diese Engel hatte, die mich da durchgeführt haben. Ich bräuchte auch hier eine Figur, die mich durch dieses Lebensgefühl des Sinnes für das Allgemeinwohl durchführt. Wenn wir so eine Figur erfänden, könnten wir darüber reden, ob ich vielleicht später im Jahr nochmal kommen könnte. Diese Idee wurde sehr wohlwollend aufgenommen, geradezu enthusiastisch. Ich dachte, ich hätte mich um Kopf um Kragen geredet, würde jetzt wieder nach Hause gehen und das war es dann. Aber nein, man würde das gerne möglich machen, wenn es mir denn möglich wäre.
Was es offensichtlich war.
Man musste einen geeigneten Schauspieler finden und ich brauchte einen japanischen Ko-Autor. Ich konnte das nicht selbst schreiben. Einer der beiden, die mich eingeladen hatten, Takuma, war Autor und Dichter. Er hat gesagt: „Du, wenn du willst, komme ich mit dir und wir schreiben das in den nächsten Wochen.“ So ist eins zum anderen gekommen. Ich habe mit der Postproduktion von „Anselm“ geredet. Ich war wild entschlossen, bis zum September mit meinem Final Cut fertig zu werden. Danach ginge der Film in die Postproduktion. Das ist in 3D sehr kompliziert und dauert gut 6 bis 8 Wochen, in der Zeit brauchten sie mich nicht. Sie haben mich also ziehen lassen und gesagt: „Im Oktober kannst du machen, was du willst. Wenn du unbedingt einen Film drehen willst, dann mach das doch.“ So ist es dann auch gekommen.
Die Welt, in der Sie leben, könnte Hirayamas Alltag nicht ferner sein. Tragen Sie eine Sehnsucht nach einem einfachen, unkomplizierten Leben in sich?
Ich habe nun wirklich kein ‚einfaches, unkompliziertes Leben‘ als Filmregisseur. Es ist äußerst bewegt. Ich reise viel und arbeite oft mit vielen Leuten im Team zusammen. Nur wenn ich fotografisch unterwegs bin, bin ich wirklich alleine. Man kann sicher nicht sagen, dass ich ‚reduziert‘ lebe, obwohl es das als Sehnsucht natürlich schon lange gegeben hat. Sich zu reduzieren, bescheidener sein und auch letztendlich einsehen, dass es für unsere Zivilisation überhaupt keinen anderen Ausweg gibt, als dass wir alle lernen, mit weniger auszukommen. In unserem Privatleben habe meine Frau und ich das schon angefangen. Wir leben in einer viel kleineren Wohnung und wir haben uns schon von Vielem getrennt. Ich kaufe auch zum Essen nur noch das, wovon ich weiß, dass wir es aufbrauchen. Nicht wie früher, wo ich oft eine Flasche Milch zu viel gekauft habe, die dann doch nur sauer geworden ist. Reduktion ist auf jeden Fall etwas sehr Gesundes und tut einem in der Seele gut, im Gegensatz zum Überfluss. Deswegen wusste ich, wovon ich rede und wovon ich in diesem Film erzählen wollte. Ich kannte die Welt des Hirayama schon ein bisschen.
Warum heißt der Protagonist Hirayama?
In meinem Lieblingsfilm aller Zeiten, in „Tokio Story“, heißt der Charakter, der von Ryu Chishu gespielt wird, Hirayama. Deswegen haben wir ihn so genannt. In Japan ist das ein Allerweltsname, viele Leute heißen so. Ich wusste von der Welt dieses Mannes, habe schon viel Zeit in Tokio zugebracht und auch schon ein paar Mal dort gedreht. Es war keine neue Kultur für mich. Ich ahnte also, wovon der Film handeln könnte, aber brauchte natürlich Hilfe und einen großartigen Schauspieler und einen Kameramann, der allerdings Deutscher sein musste. Ich musste ihm ständig etwas zuflüstern können, ohne Übersetzer. Deswegen haben Franz Lustig und ich das praktisch alleine gemacht, alle anderen waren Japaner. Und natürlich meine Frau Donata ausgenommen, die alle die Traumsequenzen des Films gedreht hat. Sie hat sozusagen die kleinen Überbleibsel und Erinnerungsfetzen jeden Tages jeweils in den Traum geschnitten, den Hariyama jede Nacht träumt. Donata hat das alleine gedreht, mit einer Assistentin als zwei-Frauen-Team, und auch selbst geschnitten, sonst hätten wir das nicht machen können. Es war eine große Freude, dass Donata auf diese Art beim Film dabei war. Sie konnte endlich mal etwas anderes machen als immer nur Standfotos.
Sind Sie des Nachts ein intensiver Träumer?
Ich bin ein höchst intensiver Träumer. Ich führe auch seit ewigen Zeiten ein Traumtagebuch. Je mehr man das macht, umso mehr Übung kriegt man drin. Ich bleibe dann im Bett und schreibe es in meinen iPad. Andere Leute stehen auf, schlüpfen in ihre Sandalen, gehen ins Studio und malen, wie Anselm Kiefer. Wenn der nachts nicht schlafen geht, arbeitet er. Eigentlich sind das seine Lieblingszeiten, mitten in der Nacht. Hirayama ist aber mit einem guten Schlaf gesegnet und wacht am Morgen auch von selbst auf. Er braucht nur das Geräusch des Besens der Nachbarsfrau, um zu wissen, dass es jetzt halb sechs ist.
Der Film ist auch eine Liebeserklärung an die Musikkassette und analoge Musik.
Der Kassettenrekorder ist natürlich ein Anachronismus, obwohl da auch eine wunderschöne Botschaft drinsteckt, die ich wirklich sehr liebe. Für eine ganze Generation von Jugendlichen in Japan sind sie heute eine große Entdeckung, diese Kassetten und die Walkmans, für die es jetzt tatsächlich wieder eigene Läden gibt. Es werden auch neue Alben auf Kassette rausgebracht. Warum? Der Ton lässt zu wünschen übrig, das ist eher Low-fi. Man kann aber auf diesen Audiokassetten etwas machen, das alles übersteigt, was digital möglich ist. Digital kann man zwar tolle Playlists erstellen, aber die sind völlig unzufriedenstellend. Playlists kann jeder von allem für jede Gelegenheit machen und es ist Mumpitz, nicht viel anders als all das, was die Algorithmen hochrechnen. Da ist keine Handschrift drin, keine Botschaft drin, keine persönliche Mitteilung. Eine ‚Compilation‘ auf einer Kassette ist hingegen wie ein Brief. Da gibt es ein Anfang und ein Ende, das erzählt eine Geschichte. Die jungen Leute haben das mit Begeisterung entdeckt und das ist das Geheimnis, warum diese Kassettenkultur plötzlich so machtvoll wiederkommt.
Es ist einfach die Wiederentdeckung von etwas Archaischem wie einem Mixtape. Ich habe tausend Kassetten entsorgt und wäre jetzt ein reicher Mann, wenn ich sie alle nach Tokio schicken könnte. Ich habe aber noch meine eigenen Compilation-Kassetten und die von meinem Bruder, weil wir uns in sechs Jahren Amerika, von 1978 bis 1984, jede Woche eine Kassette geschickt haben. Das war unsere Korrespondenz und die haben wir alle aufgehoben. Das ist geradezu unschätzbar. Es sind persönliche Botschaften aus einer Vergangenheit, die immer noch schön sind, und die eine völlig andere Erinnerung bringen. Wo ich nach wie vor meinen Bruder vor mir sehe, wie er das aufnimmt. Da ist an jedem Übergang eine Macke. Man konnte ja überblenden, aber das hat meist nicht geklappt. Man hört das Aufsetzen der Nadel, wenn man es von einer Schallplatte aufgenommen hat. Manches hat man vom Radio überspielt. Man hat all die Fehler des Machens immer mit aufgezeichnet. Das ist einfach unfassbar für eine neue Generation: Zu merken, wie viel Menschliches in so einer Audiokassette steckt!
Die Barbesitzerin im Film sagt: „Warum kann nicht alles so bleiben, wie es ist?“ Teilen Sie diesen Wunsch in einer Zeit, in der sich sehr Vieles in kurzer Zeit zum Negativen wandelt?
Die Sache ist: Erstens kann man die Zeit nicht zurückdrehen und zweitens ändert sich nie etwas wieder zurück zum Guten. Sowohl klimatechnisch als auch zivilisatorisch. Wenn sich etwas ändert, ist es nicht zurück zu wie es war. Manchmal kann sich auch etwas in der Zukunft zum Guten verändern, aber es wird nie wieder so, wie es war. Daran muss man sich gewöhnen. Jeder klimatechnische Rückschritt ist unwiderrufbar. Vielleicht kann man Bäume und das eine oder andere wieder hinpflanzen. Aber Arten, die weg sind, sind weg. Vielleicht kann man irgendwann mal aus den Genen wieder etwas hervorzaubern, das weiß ich nicht. Im Grunde ist es aber Nostalgie zu sagen: Es wäre schön, wenn es wieder so wäre. Es wird nicht wieder so. Das weiß ich sehr gut. Ich bin eigentlich auch kein Nostalgiker.
Wie sieht ein perfekter Tag nach Ihrem Geschmack aus?
Der perfekte Tag ist einer, an dem vieles passiert, was man nicht geplant hat. Etwas Schöneres gibt es nicht. Planung ist auch nicht schlecht, man kann auch gute Sachen planen. Ich plane zum Beispiel heute Abend seit langer Zeit wieder in den einzigen Laden zu gehen, wo wirklich alles neu ausliegt, was es an Vinylplatten gibt. Ich werde bestimmt das eine oder andere finden, was ich unbedingt als Schallplatte haben muss. Da freue ich mich jetzt richtig drauf, das ist meine heutige Belohnung für einen Tag Interviews. (lacht)
Die Fragen stellte André Wesche.