Diese Geschichte spielt in Zeiten, als Ehrenworte noch etwas wert waren und sie spielt in Magdeburg. Im Ersten Weltkrieg war im Kavalier Scharnhorst am Elbbahnhof ein Offiziersgefangenenlager eingerichtet. Dort bekam der internierte britische Captain Robert C. Campbell im Spätsommer 1916 einen Brief von seiner Schwester Gladys. Sie teilte ihm mit, dass ihre Mutter an Krebs erkrankt sei und im Sterben liege.
Gefangenschaft in Magdeburg
Campbell hatte seine Mutter schon zwei Jahre nicht mehr gesehen. Als Großbritannien am 4. August 1914 Deutschland den Krieg erklärt hatte, war der Berufsoffizier mit seinem East Surrey Regiment sofort mobilisiert und als Teil des Britischen Expeditionskorps auf den Kontinent verlegt worden. Sie hatten Position am belgischen Mons Condé Kanal nahe der französischen Grenze bezogen. Eine Woche später starteten die Deutschen massive Angriffe auf die englischen Stellungen, bei denen Campbell durch einen Schrapnellsplitter verwundet und gefangen genommen wurde. Nach einem Aufenthalt in einem Kölner Lazarett hatte man ihn nach Magdeburg gebracht.
Brief an den Kaiser
Niedergeschmettert von der Nachricht, wagte Campbell eine Verzweiflungstat: Er schrieb dem Deutschen Kaiser einen Brief. Er wolle das Gefangenenlager kurz verlassen, um seine Mutter in England noch ein letztes Mal sehen zu können, so die Bitte. Der Kommandant des Lagers scheint ein mitfühlender Mensch gewesen zu sein: Mit einer entsprechenden Dringlichkeitsempfehlung versehen, sorgte er dafür, dass Campbells Brief die militärische Befehlskette schneller als gewöhnlich durchlief. So erhielt er schon binnen weniger Tage Antwort. Und die war für ihn ganz sicher überraschend: Ja, er könne gehen, ließ Kaiser Wilhelm II. ausrichten. 14 Tage, je zwei für Hin- und Rückreise, zehn Tage vor Ort, gewährte er Sonderurlaub. Danach müsse er jedoch zurückkommen. Als Sicherheit verlangte der Kaiser ausschließlich sein Ehrenwort als Offizier.
Weihnachtliche Wiedervereinigung
Campbell machte sich unverzüglich auf den Weg, per Eisenbahn ging es ins neutrale Holland und von Rotterdam per Schiff hinüber auf die Insel. Die Zwischenhalte auf der vorgegebenen Reiseroute wurde dabei von den jeweiligen Behörden sorgfältig quittiert. So kam es, dass Campbell am 7. Dezember 1916, mitten in der Weihnachtszeit, das elterliche Haus in der Grafschaft Kent betrat. Er blieb die vereinbarten zehn Tage bei seiner Familie und kehrte dann – übrigens entgegen dem Willen der britischen Regierung, die von dem Heimaturlaub erst verspätet und nur über die amerikanische Botschaft in Berlin erfahren hatte – ins Offizierscamp nach Magdeburg zurück. Seine Mutter verstarb tatsächlich nur wenige Wochen später im Februar 1917.
Ehrenhafte Rückkehr
Mit seiner Rückkehr hatte der Captain sein gegebenes Ehrenwort gehalten, was ihn allerdings nicht daran hinderte, fortan an eine richtige Flucht aus dem Lager zu denken. Zusammen mit anderen Offizieren plante er diese Flucht über mehrere Monate – eine britische Quelle berichtet gar davon, dass die Gruppe einen Tunnel gegraben hätte. Auf welchem Weg auch immer: die geplante Flucht hat die Gruppe in die Tat umgesetzt, aber an der deutsch-holländischen Grenze wurde Campbell aufgegriffen und wieder ins Magdeburger Lager zurück gebracht. So erlebte der britische Captain das Kriegsende im November 1918 in Magdeburg und durfte anschließend nach Hause zurück.
Ungeklärte Fragen
Bleibt die Frage, warum der Deutsche Kaiser in diesem wohl einmaligen Fall einem englischen Offizier den besonderen Freigang aus der Internierungshaft genehmigte? Es mag am Offiziersehrenwort gelegen haben, vielleicht hat ihn das Gesuch auch in einem emotional besonderen Moment erreicht, als dass er sich zu dieser generösen Geste veranlasst sah. Einen vergleichbaren Fall hat es im Ersten Weltkrieg jedenfalls nicht gegeben. Nicht, dass es nicht einige versucht hätten. Eine ähnlich gelagerte Anfrage eines deutschen Kriegsgefangenen in England, der sich in seinem Gesuch auf den Fall Robert Campbell bezog, wurde von der britischen Regierung, wie auch in der Folge alle weiteren Anträge, abschlägig beschieden.