Für Karl Borchert ist es ein herber Schlag, als das von ihm vorgestellte Experiment abgelehnt wird. Und damit ist klar: Seine Assistentenstelle an der Uni ist er los. Betrübt verlässt er seine Arbeit ohne ein Ziel vor Augen, wäre da nicht das überraschende Angebot für Professor Leonard Habich zu arbeiten. Er soll dessen Unterlagen sichten, verwalten und sich in seine Wissenschaften vertiefen. Als er an dessen Schloss ankommt, kommen ihm schon vor der Pforte erste Zweifel. Immer wieder hört er seltsame Laute, findet in den Unterlagen von Habich Aufzeichnungen, die ihn stutzen lassen. Habich redet immer wieder von einem Durchbruch, der die Philosophie verändern wird. Aber was meint er damit? Für Karl wirkt das alles absurd, aber trotzdem scheint Habich immer weiter zu etwas hervor zu dringen, das die Welt verändern könnte.
Über das Klassische hinaus
Jonas Winners "Das Gedankenexperiment" verbindet viele Elemente auf einmal: Wissenschaftsthriller, philosophischer Roman und Schauermärchen in einem. Es erzählt eine dunkle Geschichte der Philosophie, die einen ungewöhnlichen Eindruck hinterlässt. Denn Jonas Winner hält sich nicht einfach an die klassischen Erzählweisen, stattdessen verbindet er die Erzählperspektive Borcherts mit Berichten, Interviews und wissenschaftlichen Abhandlungen. Immer wieder springt der Autor von der Perspektive des Protagonisten in fiktive Buchauszüge, die sich mit den Vorfällen auf Habichs Schloss beschäftigen, sie analysieren und untersuchen. Dabei ist dem Leser noch nicht einmal klar, was noch geschehen wird.
Zwischen Realität und Fiktion
Diese Mischung schafft einen ungewöhnlichen Sog bei dem man bald nicht mehr weiß, was Realität ist, was Fiktion. Man befindet sich in einer ewigen Gedankenspirale, die das eigene Gehirn immer schneller zum Laufen bringt, sodass man sich gemeinsam mit Borchert in einem wissenschaftlichen Rausch verliert. Wer beim Roman "Das Gedankenexperiment" leichte Unterhaltung mit Schauereffekten vermutet, wird schnell feststellen: Hier ist ein Philosoph am Werk, der sich mit Oberflächlichkeit nicht zufrieden gibt. Dementsprechend hoch und fachmännisch ist der Schreibstil, der mal zwischen analytisch und wissenschaftlich, dann wieder fast poetisch wechselt, differenziert zwischen Wissenschaftssprache und Erzählsprache sich bewegt. Und dieser Wechsel gelingt ihn mühelos und authentisch.
Unglaubliche Theorien
Darin liegt die Stärke des Thrillers. Er vermittelt glaubhaft ein Bild der philosophischen Wissenschaften, das einem das Fürchten lehrt. Auch wenn der Roman einige Startschwierigkeiten hat, oftmals wirkt wie ein langer Prolog, gelingt es Jonas Winner mit der zweiten Hälfte, den Leser in seinem Bann zu ziehen. Wendepunkt folgt auf Wendepunkt und wirre Theorien, die anfangs lächerlich erscheinen, verdichten sich zu handfesten Argumenten, deren Logik einen bestürzt. "Das Gedankenexperiment" ist wie ein Gedankenexperiment gegliedert. Es zeichnet sich durch die logische, gedankliche Heranführung an die Situation, an die Theorie, die Habich aufstellt aus und versucht sie zu beweisen, rein durch die Vorstellungskraft des Menschen. Man läuft mit, folgt Karl Borchert, wie er immer tiefer in die Materie versinkt und schier darin ertrinkt. Der Wahnsinn klopft an die Tür und das Konstrukt wird immer schwieriger zu durchschauen.
Doktor Frankenstein lässt grüßen
Das Setting, das Schloss und die Umgebung, tun ihr Übriges. So taucht die schaurige Motivik der unberechenbaren Wissenschaft aus Mary Shelley's „Frankenstein“ auch beim „Gedankenexperiment“ auf. Die dunkle Stimmung, die unheimlichen Geräusche und die Träume Borcherts erzeugen eine tiefe Bedrückung, von der man nicht los kommt. Ein Hauch Klaustrophobie schwingt überall mit, ein wenig Überspanntheit und eine fanatische Liebe zur Wissenschaft, die Grenzen überschreitet. Mit unangenehmer Gefühlslage betrachtet man diesen Mikrokosmos, in dem sie sich befinden, in dunklen Kellern und erschreckenden Versuchsreihen. Wie weit darf die Wissenschaft gehen? Eine zentrale Frage des Romans, die unbeantwortet bleibt.
Moralisch fragwürdige Charaktere
Die Charaktere geben dem Roman seinen letzten Schliff. Seien es die, die auf der Suche nach Wissen sind sowie jene, die sie fürchten oder auch die Menschen vor denen man Angst haben muss. Alle haben sie ihre Rolle, wirken schier unmenschlich und tragen alle etwas in sich, was beim Leser Beklemmung hervorruft. Sie sind klar gezeichnet, mit definierter Rolle und trotzdem überraschen sie einen immer wieder durch ihre Taten. Moralisch fragwürdig erscheinen viele Momente und Motive der Figuren, die Teil einer Versuchsreihe zu sein scheinen, die man erst zuletzt überblicken kann.
Offene Fragen
Das Ende des Romans lässt einen ziemlich verwirrt zurück. Man muss selbst eine Antwort finden, sie wird nicht gegeben. Man kann sich auf die Seite derer schlagen, die die Geschichte anzweifeln oder auf die, die ihr Glauben schenken. Auf eigenes Risiko, was diesen Roman noch angsteinflößender macht, als er durch seine Machart und seine Thematik eh schon ist. Denn er schafft eins: Ein seltsam klares Bild einer Theorie zu liefern, die einen nur schwer wieder loslässt, die weit über die Grenzen des Buches beschäftigt.
Fazit
"Das Gedankenexperiment" ist ein philosophischer Roman, der es versteht Schauermärchen und Wissenschaftsthriller zu verbinden. Erschreckend logisch, ungewöhnlich wissenschaftlich konzipiert, ist es gerade die Logik dieser Idee, die Angst einjagt. Speziell und einzigartig. Ein Roman auf den man sich einlassen muss.
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