© Kerstin Schomburg
Inszenierung des mehrfach preisgekrönten Romans "Blutbuch" von Kim de l’Horizon
Es hätte ein Klassiker werden sollen. Schließlich hat Jan Friedrich dem Theater Magdeburg mit seiner „Woyzeck“-Interpretation beachtlichen Erfolg beschert. Aber warum ein klassisches Stück neu interpretieren und für die Gegenwart zurechtbiegen, wenn es zeitgenössische Stoffe gibt, die in literarischer Qualität höchst aktuelle Themen verhandeln? So wie „Blutbuch“ von Kim de L’Horizon, das 2022 als Debütroman erschien und mit den wichtigsten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde? Die Schauspielleitung tat den mutigen Schritt: Kurzerhand wurde die Klassiker-Position auf der großen Bühne für die Adaption eines zeitgenössischen Romans freigegeben – und was für einen! In fünf stilistisch äußerst unterschiedlichen Abschnitten schreibt die non-binäre Erzählfigur Kim Briefe an seine Grossmeer (berndeutsch für Großmutter). Deren beginnende Demenz veranlasst Kim, sich die eigene Vergangenheit – und die der weiblichen Linie der Familie – zu erschreiben. Da ist die Mutter, die Meer, die Kim oft mit Kälte begegnet. Und da ist die Grossmeer, die omnipräsente, laute und manchmal übergriffige. Beide tragen nicht verheilte Wunden in sich, Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Kim, das Kind, wird davon ausgefüllt. Zum eigenen Körper kann es keine Beziehung aufbauen, weil es sich nicht entscheiden will, ob es nun „Bueb“ oder „Meitschi“ ist. Erst als erwachsene, offen queer lebende Person, kommt es zum – wenn auch fiktionalen – Dialog. Zum Aufdröseln der Fäden, welche die Familie geprägt haben. Und der Erkenntnis, dass Queerness auch in deren früheren Generationen eine Rolle spielte. Jan Friedrich entwickelte den Text auf den Proben weiter. „Da war ziemlich viel ‚Kill your Darlings‘ dabei. Der Roman enthält viele wichtige Themen. Es geht um Familie und die transgenerational weitergegebenen Wunden. Es geht um Klassenzugehörigkeit. Um die Frage, was es heißt, Mann oder Frau zu sein, und was das früher hieß. Es geht auch um Sex.“ Ein radikaler Roman sei das, der kein Blatt vor den Mund nimmt und auch mal „auf eine positive Art schamlos“ ist. Dabei behält er große Passagen des originalen Erzähltextes bei, den das Ensemble unter sich aufteilt. Daneben gibt es Spielszenen, oft auch „explizite“. Denn Friedrich legt viel Wert auf Sinnlichkeit. So wird er in einer üppigen, verschachtelten und nicht in allen Ebenen einsichtigen Bühne auch mit Live-Videoprojektion und Bildern arbeiten. Die in „Blutbuch“ eingeschriebene Utopie könnte lauten: „Ich will mit meiner Großmutter über mein queeres Sexleben sprechen können.“ Die Welt scheint sich dieser Utopie in kleinen Schritten anzunähern. Und Magdeburg?
© Engelhardt
Schauspielhaus/Theater Magdeburg
Otto-von-Guericke-Straße 64, 39104 Magdeburg
Theaterkasse: eine Stunde vor Vorstellungsbeginn